Der Schwurgerichtssaal wurde im Prozess vorübergehend zum Theatersaal. Foto: Bernklau

Chats eines jungen muslimischen Paars vorgetragen. Vulgäre und obszöne Passagen.

Calw/Tübingen - Stundenlang warfen sich Richterin und Richter sexuelle Beschimpfungen und Forderungen, Drohungen, aber auch Liebesworte und muslimische Ermahnungen an den Kopf. Das Rollenspiel um Chat-Protokolle sollte im Tübinger Schwurgerichtssaal der Wahrheitsfindung dienen.

Einen sogenannten Deal hatte die Jugendstrafkammer des Tübinger Landgerichts angeregt - auch, um der 21-jährigen Nebenklägerin aus Calw die öffentliche Aussage zu ersparen im Vergewaltigungsprozess gegen ihren früheren Freund, der in Sindelfingen lebt. Er ist zwei Jahre älter, gleichfalls türkischer Herkunft und auch islamischen Glaubens.

Es galt, die Vorgeschichte der angeklagten Vergewaltigungen zu erhellen. Bis sich alle Prozessparteien, darunter Verteidigung, Staatsanwaltschaft und der Nebenklage-Anwalt der jungen Frau womöglich auf den Rahmen verständigen für einen eventuellen Täter-Opfer-Ausgleich, ein Geständnis und Milde im Strafmaß im Gegenzug, wird der Vergewaltigungsprozess fortgesetzt mit der Verlesung von Chats, die zwischen der Trennung des Paars und den vorgeworfenen Taten ausgetauscht wurden.

Der Vorsitzende Richter Armin Ernst hatte seine Beisitzer Diana Scherzinger und Denis Fondy gebeten, diesen Austausch mit verteilten Rollen vorzutragen. Sie taten das tapfer. Über Stunden. Und über den teilweise vulgären bis obszönen Passagen im Sprech junger türkischstämmiger Migrantenkinder, die längst hierzulande geboren sind, entwickelte sich doch das Bild einer schwierigen, verbotenen Beziehung unter rigiden religiösen Regeln, die endgültig auf ein schlimmes Ende zusteuerte.

Die Trennung ging wohl von dem noch minderjährigen Mädchen aus, das zwar im Alltag Kopftuch trug, aber über mehr als zwei Jahre eine relativ feste, auch sexuelle Beziehung zu dem Angeklagten gepflegt hatte. Erotische Selfies von ihr gehörten dazu. Er durfte sich offenbar auch Abschweifungen leisten, sie nicht. Ihre Familie durfte auch nichts wissen.

Fast poetische Liebesbezeugungen

In seinem Elternhaus war man großzügiger. Auch nach der Trennung gab es fast poetische Liebesbezeugungen seinerseits, sogar Heiratspläne. Dann aber wieder den Wunsch nach einer auf den Geschlechtsverkehr reduzierten Beziehung.

Die ganzen krassen Widersprüche zu einer streng konservativen muslimischen Sexualmoral waren aber wohl nicht der entscheidende Grund für die Trennung. Auch nicht das Heucheln und Verstecken vor und in der Familie. Die fleißige Schülerin warf ihrem Liebhaber beruflich-schulisches Versagen und fehlenden Ehrgeiz vor. Als "erbärmliche Missgeburt", "Hohlkopf", "Null" und "Versager" beschimpfte sie ihn im Chat. Er schlug mit Beleidigungen als "verfickte Hure", "Lügnerin" und "Ehrlose" zurück. Er bettelte aber auch nach der Trennung um Sex, um Koch- und Putzdienste und vor allem um "geile Bilder".

Die Fotos, die er schon hatte, setzte er allmählich immer mehr als zusehends erpresserisches Druckmittel gegen die widerspenstige Ex ein. Die speiste ihn provokativ oder ernsthaft mit züchtigen Selfies mit Kopftuch ab. Er drohte auch immer unverhohlener, ihren Vater zu informieren. Beidseitige Eifersucht kam hinzu.

Rückkehr zu religiösem Lebenswandel

Irgendwann verkündete das Mädchen, wieder zum Beten, Koranrezitieren und zu religiösem Lebenswandel zurückgekehrt zu sein. Seine auch allmählich von sexuellen Gewaltdrohungen durchsetzten Botschaften, Foto-Forderungen und pornografischen Selfies quittierte die junge Frau auch so: "Du redest wie Allah oder der Prophet! Aber du bist nicht Gott und ich nicht deine Sklavin! Ich bin ein freier Mensch". Sie droht dem Bedränger ihrerseits mit der Familie und Freunden und forderte ihn immer wieder rüde auf "Verpiss dich!"

Die Whatsapp-Dokumente betreffen die Zeit, die noch vor den ersten angeklagten Vergewaltigungen im Herbst 2016 liegt. Wenn am kommenden Freitag kein Einvernehmen erreicht wird und mit Geständnis und Plädoyers ein schnelles Urteil gefällt werden kann, soll der Prozess mit der weiteren Verlesung der Chats fortgesetzt werden. Ursprünglich waren bis Mitte September drei weitere Verhandlungstage angesetzt.