Mehr als 30 Besucher haben zum Vortrag von Stephan Lehnstaedt (rechts) über den Holocaust in Bełzec, Sobibór und Treblinka in den kleinen Saal der Hohenzollernhalle gefunden. Fotos: Kauffmann Foto: Schwarzwälder Bote

Holocaust: Professor Stephan Lehnstaedt gibt erschreckende Einblicke in die "Aktion Reinhart"

Das Unfassbare hat Stephan Lehnstaedt thematisiert: Die "pure Vernichtung" in Bełzec, Sobibór und Treblinka, bei der Millionen Menschen ermordet wurden, die aber fast keinen Platz in der Erinnerungskultur findet. Warum ist das so?

Bisingen. Ein Abend mit leichter Kost ist das nicht gewesen: Im kleinen Saal der Hohenzollernhalle ging es auf Einladung des Bisinger KZ-Gedenkstättenvereins um den Massenmord Juden in den Vernichtungslagern von Bełzec, Sobibór und Treblinka im Osten Polens. Und doch waren mehr als 30 Personen gekommen, um zu hören, was Stephan Lehnstaedt, Professor für Holocaust-Studien und Jüdische Studien aus Berlin (siehe Info), zu diesem Thema zu berichten wusste. Anlass dafür war der Holocaust-Gedenktag am vergangenen Sonntag.

Die Erinnerung sei vor allem mit Auschwitz verbunden, sagte Dieter Grupp, Vorsitzender des Gedenkstättenvereins: Emblematisch stehe der Ort heute für den systematischen Mord während der Zeit des Nationalsozialismus. Grupp: "Heute schauen wir weiter nach Osten." Und zwar auf einen Schauplatz, den Lehnstaedt als "Quintessenz" des Holocausts bezeichnet, als "pure Vernichtung" und "perfektes Verbrechen".

Wie unter einem Brennglas verdeutlichen diese drei Schauplätze des Schreckens, was hätte passieren können. Im Frühjahr 1942 startete die "Aktion Reinhart" mit dem Ziel, alle jüdischen Polen umzubringen. Mehr als zwei Millionen Menschen wurden in den drei Lagern ermordet, nur 150 Menschen überlebten. Lehnstaedt: "Die Menschen umzubringen ging schnell, ihre Leichen fortzuschaffen, war eine Herausforderung." Den bestialischen Gestank der toten Körper muss unvorstellbar gewesen sein. Ein Fotoalbum eines SS-Wachmanns sei derweil betitelt gewesen mit "Schöne Zeiten".

Die Gruppe der Primärtäter war laut Lehnstaedt ausgesprochen klein: Er beziffert deren Zahl in Bełzec, Sobibór und Treblinka auf gerade einmal 150 Personen. Gefangene haben sie gezwungen, die Leichen wegzuräumen und geraubte Gegenstände zu sortierten, manche waren dafür abgestellt, den Kopf der Menschen kahl zu scheren, kurz bevor sie die Gaskammer betraten. Doch auch sie waren "exzessiver, grundloser Gewalt" (Lehnstaedt) ausgesetzt.

Und doch habe es auch Gefangene gegeben, die sich gewehrt haben. Im Lager von Sobibor sei es zu einem Aufstand gekommen, bei dem mehrere SS-Angehörige verletzt wurden. Auch der Aufstand im Warschauer Getto vermittle laut Lehnstaedt das Signal: "Die Juden lassen sich nicht wie Schafe zur Schlachtbank führen." Doch selbst, wenn die Flucht gelang, blieb die Gefahr groß: "Entkommen ist nicht die Rettung." Ein Versteck, Essen und Trinken zu finden, sei nicht einfach gewesen, zumal jeder, der Juden half, umgebracht wurde. Nur wenige überlebten den Terror.

Und genau das sei ein Grund, warum die "Aktion Reinhart" sowie die Lager von Bełzec, Sobibór und Treblinka kaum erinnert wird. Es gebe nur wenige Zeitzeugen, die von den Ereignissen hätten berichten können. Zudem seien viele Betroffene in die USA ausgewandert. In der kommunistischen Erinnerungskultur der Sowjetunion sei vor allem vom Aufstand im Warschauer Getto erzählt worden, weil dieser sich als Kampf gegen die Besatzer verbrämen ließ.

Ein Bauernhof und neu gepflanzte Bäume sollten die Fassade für eine heile Welt liefern und den millionenfachen Mord vertuschen

Auschwitz, das symbolhaft für den massenhaften Mord während des Nationalsozialismus gilt, überlagere die Erinnerung an Bełzec, Sobibór und Treblinka – bis heute.

Ob die Täter erfolgreich waren? Anders als in weiteren Vernichtungslager blieb nichts übrig. Die SS habe die Lager in Bełzec, Sobibór und Treblinka systematisch geräumt, abgebaut und danach Bäume gepflanzt und einen Bauernhof gebaut – eine Fassade, die über den millionenfachen Mord hinwegtäuschen sollte. Befreit wurden die Lager nicht. Abbaupläne gab es für Auschwitz auch, doch sie wurden nie umgesetzt, weil sie befreit wurden. Dort konnten keine Spuren verwischt werden. Nicht umsonst spricht Historiker Lehnstaedt während seines Vortrags vom "perfekten Verbrechen".

Stephan Lehnstaedt ist Professor für Holocaust-Studien am Touro-College in Berlin. Der Hisotriker war von 2010 bis 2016 Mitarbeiter des Deutschen Historischen Instituts in Warschau. Zuvor war er 2012 Sachverständiger des Bundestages für Gettorente. Für seine Forschungstätigkeit zur deutsch-polnischen Aussöhnung erhielt er mehrfach Auszeichnungen. Jüngst trat er 2017 im Bundestag als Experte für das Gedenken an die "Aktion Reinhart" auf. Damit beschäftigt sich auch sein neustes Buch "Der Kern des Holocaust".