Zum Auftakt des 77. Filmfestivals von Cannes wird klar: Auf politische Turbulenzen wie bei der Berlinale hat man keine Lust. Gut möglich, dass dies ein frommer Wunsch bleiben wird. Das Rennen um die Goldene Palme beginnt mit dem Gen-Z-Porträt „Diamant Brut“ äußerst vielversprechend.
Business as usual. Das wünscht sich der Festivalleiter Thierry Frémaux für die 77. Internationalen Filmfestspiele von Cannes, die am Dienstagabend eröffnet wurden. „Wir haben uns entschieden, ein Festival ohne politische Polemik zu veranstalten“, hatte er tags zuvor bei einer Pressekonferenz gesagt, es solle für die kommenden zwölf Tage ums Kino und nichts als das Kino gehen. Auf eine Situation wie bei der Berlinale, wo spätestens zum Festivalende hin die weltpolitische Lage in Form des Nahostkonflikts das Geschehen auf der Leinwand arg in den Hintergrund treten ließ, hat man an der Croisette ganz offenkundig keine Lust.
Wohl auch deswegen waren bei Eröffnungsfeier keine großen Reden, sondern straffes Programm angesagt. Die US-Regisseurin und Schauspielerin Greta Gerwig, die in diesem Jahr der Wettbewerbsjury vorsitzt, proklamierte wie auf Kommando kurz ihre Liebe zum Kino, bevor auch schon der ganze Saal mit minutenlangen stehende Ovationen ihre Kollegin Meryl Streep feierte. Die 74-Jährige erhielt aus den Händen von Juliette Binoche die erste von in diesem Jahr drei Goldenen Ehrenpalmen (die anderen gehen an die japanischen Zeichentrick-Legenden von Studio Ghibli und den „Star Wars“-Erfinder George Lucas).
Als erster Film des Festivals wurde dann im Anschluss (und außer Konkurrenz) „Le deuxième acte“ von Quentin Dupieux gezeigt, was ebenfalls gut ins Bild passte, geht es in der französischen Komödie doch nicht zuletzt ums Filmemachen. Es dauert eine kleine Weile, bis man begreift, dass die beiden Männer (Louis Garrel und Raphaël Quenard), die zu Beginn des Films durch die einsame Landschaft der Dordogne laufen und dabei über eine allzu anhängliche Verehrerin des einen diskutieren, nicht beste Freunde, sondern Schauspieler in ihren Rollen sind. Ebenso wie kurz darauf eben jene Frau (Léa Seydoux) und ihr vermeintlicher Vater (Vincent Lindon). Und irgendwann, als alle vier aufeinandertreffen und für eine Szene in einem Landgasthof sitzen, zeigt sich, dass es noch eine dritte Ebene gibt.
Von KI über Cancel Culture bis Me Too
„Le deuxième acte“ ist ein – bisweilen sehr verplapperter – Film über einen Film über einen Film, inklusive Meta-Anspielungen und zum Schluss einer langen Fahrt, bei der die Kamera ihre eigenen Schienen filmt. Es geht Dupieux, dessen sonst noch sehr viel schrägere und absurdere Filme in Deutschland vergleichsweise wenig wahrgenommen werden, aber nicht nur um die Schauspielerei und das Verwischen von Grenzen zwischen Realität und Fiktion. Mit beiläufigen Gags und ohne tatsächlich Fundiertes dazu zu sagen, werden auch aktuell kontrovers diskutierte Themen verhandelt, von Künstlicher Intelligenz über Cancel Culture bis zu Me Too.
Gerade Letzteres verlieh dem Eröffnungsfilm dann noch einmal eine Metaebene der ganz anderen Art: Der Schauspieler Raphaël Quenard ist nämlich einer der Namen auf einer seit Tagen kursierenden Liste, über die – Gerüchten zufolge – in den kommenden Tagen Vorwürfe der sexuellen Belästigung öffentlich gemacht werden sollen.
Politik an jeder Ecke
Steht der französischen Filmbranche noch während des Festivals eine massive Erschütterung bevor? Oder verfliegt das zum Auftakt noch omnipräsente Geraune ebenso schnell wie das grau-feuchte Wetter an der Croisette, sobald der Wettbewerb einmal an Fahrt aufgenommen hat und auch der Sonnenschein zurück ist? Die Antwort lässt sich aktuell noch schwer vorhersagen, doch Frémaux‘ Wunsch, es möge bei seinem Festival nur um Filme, nicht um Politik gehen, dürfte ein frommer Wunsch bleiben.
Letztere ist aktuell in Cannes nämlich auch jenseits der Leinwand an jeder Ecke Thema. Sei es, weil es noch während der Veranstaltung zu einem Streik kommen könnte, der zu erheblichen Störungen führen könnte, weil unter anderem auch die Filmvorführer zu jener Gruppe gehört, die mit Arbeitsniederlegung droht.
Der Traum von einer Karriere als Reality-TV-Star
Oder auch, weil gerade bekannt wurde, dass der iranische Regisseur und Berlinale-Gewinner Mohammad Rasoulof, dessen neuer Film „The Seed of the Sacred Fig“ kommende Woche im Wettbewerb Premiere feiert, nach einer Verurteilung zu acht Jahren Haft sowie Peitschenhieben wegen angeblicher Verstöße gegen die nationale Sicherheit in einer Nacht- und Nebelaktion aus seiner Heimat geflohen ist.
Dafür, dass die Filmfestspiele am Mittelmeer auch weiterhin der Ort bleiben, an dem die Magie des Kinos gefeiert wird wie kaum irgendwo sonst, müssen also vor allem die Filme selbst sorgen. Das Rennen um die Goldene Palme ging am Mittwoch jedenfalls schon einmal vielversprechend los, mit „Diamant Brut“ (auf deutsch: Rohdiamant) von Agathe Riedinger.
Die Französin erzählt, ausgehend von einem früheren Kurzfilm, von der 19-jährigen Liane (Malou Khebizi), die eine alles andere als glamouröse Jugend an der Côte d’Azur verbringt und zwischen Ladendiebstahl, Tiktok-Tänzen und Insta-Followern von Schönheits-OPs und einer Karriere als Reality-TV-Star träumt.
Die große Unbekannte im Programm
Ein so bitterer wie berührender Film, der einerseits zwar ähnlich funktioniert wie andere Coming-of-Age-Geschichten über Teenager aus prekären Verhältnissen, aber andererseits viel klüger und fundiert auf die von fragwürdigen Schönheitsidealen und ungestilltem Liebesbedürfnis geprägte Generation Z blickt, als die meisten anderen.
Als einziger Debütfilm im diesjährigen Wettbewerb war „Diamant Brut“ vorab die größte Unbekannte im Programm. Nach der Premiere ist dieses kleine, von einem enorm wahrhaftigen Ensemble und starken Bildern lebende Werk ein großes Versprechen. Was die Zukunft der Regisseurin angeht. Aber auch für den Rest des Festivals.