Was vor 30 Jahren für sie ein dramatisches Erlebnis war, können die beiden Akteure Ingo Schulze (im Kofferraum) und Markus Mägerle heute in lockerer Weise nachstellen. Foto: Bausch

Im August 1989 hat der Calwer Markus Mägerle Ingo Schulze bei dessen dramatischer Flucht geholfen.

Althengstett/Calw - Für den Wahl-Althengstetter Ingo Schulze und den Calwer Markus Mägerle sind der 3. Oktober 1990 und noch mehr der 23. und 24. August 1989 ganz besondere Tage. Im Sommer 1989 gelang Schulze nämlich mit Hilfe von Mägerle eine abenteuerliche Flucht von Ungarn nach Westdeutschland.

Es beginnt alles auf einem ungarischen Campingplatz. Dort machen im Sommer 1989 Mägerle aus Calw-Heumaden und der DDR-Bürger Schulze aus Leipzig Urlaub. Die damals 23-Jährigen lernen sich beim Campen, gemeinsamem Grillen und abendlichen Feiern kennen. Dabei entsteht ein abenteuerlicher Fluchtplan, der ebenso riskant wie verlockend ist – wenn er denn gelingen sollte.

"Ich war damals jung, wollte mein Leben selbst bestimmen und in Freiheit leben", sagt der heute 54-jährige Schulze. Locker und dennoch sichtlich bewegt schildern die beiden Akteure dann die dramatischen Stunden eines lebensgefährlichen Abenteuers.

Kofferraum wird als Versteck auserkoren

"Schulze und sein Cousin wollten nach Westdeutschland fliehen. Ich habe ihnen gesagt, dass auch bei uns im Westen nicht alles rosig ist", erinnert sich Mägerle. Doch der junge Leipziger lässt sich einfach nicht beirren. Zur Flucht wird schließlich der Kofferraum von Mägerles Auto als Versteck auserkoren. Bei der heftigen Augusthitze, die in diesen Tagen herrscht, kann man in diesem Käfig jedoch leicht ersticken. Doch der gelernte Kraftfahrzeug– Elektromechaniker Schulze findet einen praktikablen Weg, wie man dem Kofferraum frische Luft zuführen kann.

Es folgt eine Probefahrt mit den zwei jungen fluchtwilligen DDR-Bürgern in Mägerles Kofferraum. Zwar bewährt sich die Belüftungskonstruktion, doch bei scharfem Bremsen kommt es zu einem unerwarteten Auffahrunfall. Ein ungarischer Student drückt den Kofferraumdeckel des westdeutschen BMW-Coupes erheblich ein. Mägerle muss fürchten, dass seine heimlichen Mitfahrer verletzt sein könnten. Als dann schließlich die ungarische Polizei zum Unfallort kommt, sind die beiden Ostdeutschen mittlerweile unversehrt aus dem Kofferraum gestiegen und verstecken sich im hohen Gras. Die Polizei bestätigt den Unfall und stellt eine entsprechende Bescheinigung aus.

Grenzer hatte Kofferraum schon geöffnet

Während Schulzes Vetter nach diesem traumatischen Erlebnis nicht mehr mitmachen will, entscheidet sich Schulze trotzdem für die Durchführung des Plans. Das größte Problem dabei: unauffällig über die Grenze nach Österreich zu kommen. Deshalb nähern sie sich der Grenze erst in den frühen Morgenstunden gegen 4.30 Uhr.

Die Grenzbeamten sind zu diesem Zeitpunkt jedoch nicht schläfrig, sondern hellwach. Einer öffnet den zerbeulten Kofferraum mit einem Ruck. Er sieht jedoch nur Mägerles Bettzeug, prüft die Unfallbescheinigung der ungarischen Polizei und verzichtet dann auf eine weitere Untersuchung des Fahrzeugs. "In dieser Situation habe ich dann Panik bekommen und habe in der Aufregung den Grenzer einfach die ganze Zeit zugequatscht. Ich glaube, das war dem einfach zu viel", schmunzelt Mägerle im Rückblick. Nach 20-minütigem Warten habe man sie an der Grenze schließlich einfach durchgewinkt.

In Österreich angekommen, rufen die beiden die Deutsche Botschaft an und fragen, ob Schulze bei der Fahrt in die BRD weiter im Kofferraum bleiben müsse. "Aber natürlich nicht", lautet die Antwort. Mägerle und Schulze kommen am nächsten Tag wohlbehalten in Calw an.

"Ich musste bei Null anfangen"

"Ich hatte gar keine Zeit zum Überlegen. Alles ging jetzt Schlag auf Schlag", erinnert sich Schulze. Er findet zunächst eine Zeit lang Unterkunft bei Familie Mägerle in Calw-Heumaden. Als er am Tag nach seiner Ankunft in der Hesse-Stadt Behördengänge macht, wird er überall freundlich begrüßt. "Es war schon alles vorbereitet, und ich musste immer nur noch unterschreiben", staunt Schulze. Die Behörden sind nämlich schon entsprechend informiert worden.

"Ich hatte lediglich 120 DM im Gepäck und musste wirklich bei Null anfangen", erzählt der Ostdeutsche. Nach einer vorübergehenden Tätigkeit im Coop Calw findet der junge Mann dann Arbeit in seinem erlernten Beruf. Es geht langsam aufwärts.

"Ich konnte damals natürlich nicht mit einem schicken Auto vorfahren, wie andere Männer in meinem Alter. Aber später erfuhr ich dann, dass der KfZ-Brief von diesen Autos oft auf der Bank lag", lächelt Schulze.

Sein Vater war in der DDR Kleinunternehmer mit einem Frisörgeschäft. Und unabhängiger Unternehmer will der Sohn unbedingt auch werden. Im Jahr 1999 macht er sich im Raum Leonberg selbstständig und gründet eine Firma zur Reparatur von Oldtimern. Mit dem Geschäftlichen hat er es durch hohen Arbeitseinsatz und Fleiß also tatsächlich geschafft. Er gründet zudem eine Familie und hat heute zwei erwachsene Kinder.

Historischer Tag wird dieses Jahr besonders gefeiert

"Zweimal im Jahr fahre ich in meine alte Heimat und besuche die Verwandtschaft", erzählt Schulze. Er hat den schwierigen Neuanfang bei Stunde Null erfolgreich gestemmt und ist zufrieden mit seiner Situation. In der Gäugemeinde Althengstett betreibt er heute zusammen mit einem Kompagnon eine Firma und ist damit endgültig im Westen angekommen.

Den historischen Tag der deutschen Einheit feiert er mit seiner Frau, die ebenfalls aus Sachsen stammt, in diesem Jahr ganz bewusst.