Freispruch vor dem Hechinger Landgericht: Der 52-Jährige, der seinen Bruder erstochen haben soll, hat laut Gericht nur "moralische Schuld" auf sich geladen. Foto: Maier

Wegen Totschlags angeklagter 52-Jähriger wird freigesprochen. Gericht kann Notwehrhandlung nicht ausschließen.

Albstadt-Tailfingen - Im Prozess gegen den 52-jährigen Metzger, der in der Silvesternacht seinen Bruder erstochen haben soll, ist das Urteil gefallen. Er wurde freigesprochen.

"Ein Gericht urteilt nicht über moralische Schuld", bemerkte Richter Anderer. Moralisch habe sich der Angeklagte zweifellos schuldig gemacht. Er habe seinen Bruder erstochen. Diese moralische Schuld betreffe aber ihn selbst, das Verhältnis zu seinen Eltern denen er den Sohn, seinen Geschwistern, denen er den Bruder und seinen Neffen, denen er den Vater genommen habe. Eine sicher nachweisbare juristische Schuld liege nicht vor.

Im Mittelpunkt des Verfahrens stehen zwei Brüder. Der ältere führt ein gutbürgerliches Leben mit Familie und eigener Metzgerei. Er hat zwei Gesichter: höflich und hilfsbereit, aber auch aufbrausend und verletzend. Der andere Bruder treibt sich in der Hamburger Drogenszene herum, immer wieder muss er ins Gefängnis. Jeder der Beiden würde für den Anderen durchs Feuer gehen. Doch so sehr sich die Brüder lieben, so heftig streiten sie sich auch.

Die Ehe des Älteren geht in die Brüche, die Metzgerei muss er abgeben. Doch sein "Versagerbruder" dient ihm als Projektionsfläche für seine gescheiterte Existenz. Die Beziehung der Brüder ist ein Pulverfass, keiner weiß, wann es zur Katastrophe kommt.

In der Silvesternacht ist es so weit. Die Brüder feiern in einer Kneipe. Dort kommt es zum Streit. Der Jüngere will allein in seine Wohnung zurück und macht seiner Freundin gegenüber deutlich, dass sein Bruder ihm nicht folgen dürfe. Dennoch steht der plötzlich in der Wohnung. Er habe ihn aufgefordert zu gehen, berichtete der Angeklagte, ohne zu ahnen, wie entscheidend dieser Satz für sein Urteil sein würde. Denn indem der Bruder blieb und ihn sogar zusammenschlug, beging jener Hausfriedensbruch.

Vieles konnten nicht geklärt werden, weil der Angeklagte sich nicht mehr erinnerte. Diese Amnesie bestätigte ein Psychologe und führte sie auf synthetische Drogen in Kombination mit Alkohol und Faustschlägen zurück. Es sei nicht auszuschließen, dass der Angeklagte seinem Bruder mit den Messern zur Treppe gefolgt sei, um sich zu vergewissern, dass dieser wirklich verschwinde. Dort habe sein Bruder sich vielleicht erneut umgedreht, um ihn anzugreifen. Als er daraufhin zugestochen habe, handelte es sich um Notwehr. Notwehr müsse nicht bewiesen werden, es müsse nur Anhaltspunkte dafür geben. Hier gibt es einige.

"Wir wissen nicht, ob es so war" meinte Anderer, "aber wir müssen uns zugunsten des Angeklagten entscheiden. Das ist Rechtsstaat. Wie es wirklich war, weiß keiner. Aber lieber einen Schuldigen zu Unrecht freilassen, als einen Unschuldigen zu Unrecht einsperren."

Das Urteil steht fest. Doch ist es sinnvoll, einen alkohol- und drogensüchtigen, depressiven und selbstmordgefährdeten Mann sich selbst zu überlassen? Es liege jetzt an ihm, sein Drogenproblem in die Hand zu nehme.

"Danke" ist alles, was der Angeklagte am Ende hervorbringt. Dann nimmt ihm ein Polizist die Fußfesseln ab. Seine Freiheit dürfte aber von kurzer Dauer sein. Die Staatsanwaltschaft geht gegen das Urteil in Revision. Sie hatte eine vierjährige Unterbringung in einer Entziehungsanstalt gefordert.