Der Störer in Aktion – „scheiß Nazis“ brüllt er aus Leibeskräften, ehe er abgeführt wird, Tino Chrupalla verfolgt es von der Bühne aus, auf der Leinwand zu sehen, mit Entsetzen. Foto: Cornelia Spitz/ Foto:  

Der AfD-Bundes- und -fraktionsvorsitzende Tino Chrupalla rief am Dienstagabend alle auf den Plan: Bunte, Linke, Gewerkschafter, Rechte, Erzkonservative – und sogar Störer, welchen an diesem Abend ein bemerkenswerter Coup gelungen war.

Gegen 16 Uhr war klar: An der Neuen Tonhalle würde sich etwas tun an diesem Dienstagabend. Dutzende Kastenwagen der Polizei rollten an, das Anti-Konfliktteam, das „Präsidium Einsatz“, Polizisten aller möglichen Abteilungen und Mitarbeiter des Kommunalen Ordnungsdienstes waren vor Ort und in der näheren Umgebung wachsam. Hier geht's zu unserem Liveticker zum Nachlesen.

Kurz vor 17 Uhr dann war die Villinger Innenstadt in Bewegung – Menschen mit Regenbogenschals, Trillerpfeifen, Plakaten und Sonnenblumen strömten zur Halle, um einen Gegenpol zu setzen zum Bürgerdialog der AfD mit dem prominenten Redner, von dem spätestens seit dem mutmaßlichen Anschlag auf seine Person kurz vor den Landtagswahlen in Bayern jeder schon einmal etwas gehört haben durfte.

Nicola Schurr freut sich, dass viele aufgestanden sind für ein buntes VS. Foto: Cornelia Spitz

Chrupalla nicht zu sehen

So viel sie ihm auch zu sagen gehabt hätten, zwischen Slogans wie „Keine Macht, keinen Raum, keine Stimme der AfD“ und „Nazis raus“-Rufen – den AfD-Chef bekamen sie nicht zu Gesicht. Chrupalla gelangte durch einen Hintereingang in die Halle und betrat auch den großen Saal nicht über das Foyer, sondern aus dem Backstage-Bereich der Bühne.

Zuvor hatten die Helfer von „VS ist bunt“ um Axel Killmann und Nicola Schurr draußen schon mächtig aufgefahren. Neun Redner, darunter auch die SPD-Bundestagsabgeordnete Derya Türk-Nachbaur, der SPD-Fraktionsvorsitzende Nicola Schurr, Elif Cangür von der Alevitischen Gemeinde, Kai Humphries von den Jusos und Marin Juric von der Grünen Jugend sprachen unter anderen. Umringt von jenen 250 bis 300 Teilnehmern, bei denen sich Nicola Schurr bedankte dafür, dass sie „aufgestanden sind für ein weltoffenes Villingen-Schwenningen“, das „wieder einmal“ einen Anlass biete, zusammenzustehen: die AfD-Veranstaltung.

Das Anti-Konflikt-Team entschärft kritische Situationen, ehe sie sich zuspitzen. Foto: Cornelia Spitz

Bereit für 400 Zuhörer

Die hatte währenddessen für 400 Personen in der Neuen Tonhalle für den Bürgerdialog gestuhlt. Während den Alternativen eisiger Wind und lautstarke Propaganda der Demonstranten entgegen schlug, ballten ganz offensichtlich auch einige der so ruhig davorstehenden AfD’ler die Fäuste im Sack. „Ach ja, aber das dürfen sie, uns beleidigen, ja, dürfen sie das, sagt doch mal, ihr Anti-Polizisten“, platzte es aus einem heraus in Richtung eines Polizei-Beamten des „Anti-Konflikt-Teams“. Ein offenbar von der AfD eingesetzter Ordner reagierte prompt, zischte dem Impulsiven in wenigen Worten etwas zu, wonach dieser zwar unwillig, aber folgsam seinen Ärger hinunterschluckte.

Martin Rothweiler, Tino Chrupalla und Marc Bernhard freuen sich über eine volle Halle. Foto: Cornelia Spitz

Äußerliche Konflikte musste die Polizei hingegen zunächst nicht lösen. Polizeisprecher Jörg Kluge bestätigte den bis dahin ruhigen Verlauf, für den sich die Polizei sogar mit dem möglichen Einsatz von Drohnen gewappnet hatte, um gegebenenfalls erläuterndes Bildmaterial aus der Luft sammeln zu können. Doch das war nicht nötig, denn drinnen, wo am Ende tatsächlich Bemerkenswertes passierte, flog die Drohne nicht.

Regierungsschelte in Serie

Der Saal füllte sich. Direkt vor der Bühne blieb ein abgesperrter Bereich mit etwa 120 Stühlen lediglich denen vorbehalten, die AfD-Mitglied seien, wie ein Ordner auf Anfrage erläuterte. Die übrigen Stühle waren voll besetzt, als Tino Chrupalla aus dem Off die Bühne betrat. Beifall, Sympathierufe, strahlende Alternative.

Mittendrin: Eine kleine Gruppe junger Männer in Sweatshirts und Turnschuhen.

Vorne nahm Chrupalla zunächst in der ersten Reihe Platz und überließ das Mikrofon – nach einer kurzen Begrüßung durch den AfD-Lokalmatador Martin Rothweiler – dem ersten Redner des Abends, dem AfD-Bundestagsabgeordneten Marc Bernhard, der auch Rothweilers Chef im beruflichen Alltag bei der AfD ist.

Bernhard holte das Publikum direkt ab – neben jeder Menge Regierungsschelte, hagelte es Spitzen gegen Vizekanzler Robert Habeck, Kanzler Olaf Scholz und dessen Vorgängerin Angela Merkel und natürlich die AfD-Superthemen Energiepreise, Migration und der „Heizungshammer“. Vollmundig kündigte er an, was sich mit einer „AfD-Regierung“ ändern würde im Gegensatz zum Status quo. Und den sah er so: „Wir haben ein Land, in dem kommen Sie ins Gefängnis, wenn Sie ein Parkticket nicht bezahlen, dann kommen Sie ins Gefängnis*! Wenn Sie aber eine Frau vergewaltigen, dann kommen Sie mit einer Bewährungsstrafe davon!“ (*Anmerkung zum Faktencheck der Redaktion: Eine kurze Erzwingungshaft ist bei Nicht-Bezahlen eines Strafzettels tatsächlich unter bestimmten Bedingungen möglich und liegt meistens bei einem Tag – das Strafmaß bei Vergewaltigung beträgt die Strafe mindestens zwei Jahre, eine Aussetzung zur Bewährung ist damit fast ausgeschlossen). Viel Beifall bekam Bernhard. Selbst die erwähnte Jungsgruppe in Sweatshirts applaudierte mit. Auch wenn das Publikum ganz offensichtlich nun vor allem auf ihn wartete: Tino Chrupalla.

Störer stürmt nach vorne

Der gab sich in „Willingen-Schwenningen“, wo er sich wähnte, nicht halb so kämpferisch wie Bernhard, holte das Publikum aber auf andere Weise ab, als er sich als ehemaliger FDP-Wähler outete und heute amüsiert bemerkte, Olaf Scholz überhole die AfD gerade von rechts, wenn er fordere, man müsse im großen Stil abschieben.

„Scheiß Nazis“, brüllt der junge Mann und reckt die Mittelfinger. Foto: Cornelia Spitz

Als habe er genau auf dieses Thema gewartete, stürmte plötzlich ein junger Mann – er war Teil der jugendlichen Gruppe, die den ganzen Abend im Saal gesessen hatte, im linken Gang zwischen den Stuhlreihen nach vorne, reckte die Hände mit ausgestreckten Mittelfingern in die Höhe und schrie aus Leibeskräften: „Ihr scheiß Nazis!“ Ruckzuck umringt von Wärtern und vom Sicherheitspersonal an den Armen gepackt, gelang es ihm gerade noch ein „verpisst euch“ hinauszuschreien, ehe er aus der Halle geführt und vor der Halle ebenso wie seine Kumpane vernommen wurde.

Der Störer wird abgeführt. Foto: Cornelia Spitz

Ein Helfer der AfD, der die Veranstaltung mit betreut, erzählte im Gespräch mit unserer Redaktion später, der Störer habe ein DIN A4 Blatt dabei gehabt, dass ihn als Reporter einer Lokalzeitung ausgewiesen habe – er habe nur noch keinen Presseausweis, da er erst so kurz mit von der Partie sei. Nach Informationen unserer Redaktion kann die Mitwirkung einer Redaktion offenbar tatsächlich nicht ausgeschlossen werden.

Nach Insider-Infos soll es sich um eine geplante Störaktion gehandelt haben und soll die Gruppe von Jugendlichen sogar anwaltlich betreut werden – die freie Meinungsäußerung bei einer Veranstaltung lasse sich wohl kaum verbieten und rechtfertige auch keinen Verweis aus dem Saal, so die Argumentation. Der juristische Ausgang in dieser Sache dürfte demnach mit Spannung erwartet werden.