Salzstetter Arzt Michael Schmelzle behandelt syrische Flüchtlinge in Camps im Libanon / Hilfe ein Mittel gegen Extremismus

Von Walter Maier

Waldachtal. Michael Schmelzle, der eine Arztpraxis in Salzstetten führt, war einige Zeit in syrischen Flüchtlingslagern. Nach seiner Rückkehr berichtet er von seiner Arbeit und von den Menschen dort.

Der Mediziner ist zurück von seinem Einsatz in syrischen Flüchtlingslagern. Er schildert seine dreiwöchige humanitäre Hilfeleistung: "Was unsere Patienten erlebt haben, können wir nur indirekt ermessen: Herkunftsangaben wie ›Homs‹ oder ›Aleppo‹ hätten früher nach 1001 Nacht geklungen, heute verbinden wir es mit den schlimmen Berichten der letzten Jahre."

Vielfach konnte er vor Ort von Zahlé aus, nur zehn Kilometer von der syrischen Grenze entfernt, Hilfe leisten im Auftrag von Humedica International Aid: "Die Krankheiten wie Einnässen, Angststörungen oder Schlafstörungen sind weniger sichtbar, als die körperlichen Verletzungen." Sein Fazit: "Die Zeit war viel zu kurz, viele Eindrücke, wertvolle Begegnungen, Wiederholungsgefahr sehr hoch. Es war eine sagenhafte Zeit."

In der früher einmal "Schweiz des Nahen Ostens" genannten Region erreichen mobile medizinische Teams jedes Camp einmal im Monat. Warum führt die Anwesenheit von etwa 1,5 Millionen Flüchtlingen aus dem Syrien-Krieg und weiteren 300 000 aus Palästina nicht zum Kollaps des nur etwas über vier Millionen Einwohner zählenden Libanons, aus dem selbst schon sieben Millionen Libanesen nach Südamerika ausgewandert sind?

Der 53-jährige Arzt aus Waldachtal berichtet über den Alltag eines Teams aus der Sicht eines Kurzzeit-Volunteers aus Deutschland: "Der Tag beginnt um 8.30 Uhr im Office mit einer Teambesprechung. Danach wird geladen. Ein Fahrzeug startet mit der Hebamme, ein oder zwei weitere mit dem Versorgungsteam in eines der Camps, nach Monatsplan. Je nach Zustand des Camps ziehen wir mit Kisten, Campingtischen und Klappstühlen in eine leere Hütte ein oder die Hütte wird von den Bewohnern für diesen Tag leer gemacht", erzählt Schmelzle.

"Vorne in einem improvisierten Schattenbereich registriert der Field-Officer unsere Patienten. Notiert werden nur die Namen der Erwachsenen – es sind zu 95 Prozent Frauen, dahinter noch die Anzahl der meist vielen mitgebrachten Kinder. Die höchste genannte Kinderzahl lag bei 16 – in diesem Fall allerdings von zwei Müttern", berichtet er weiter.

"Den Behandlungsraum kann man sich so vorstellen: Betonbodenplatte, aus Bauholz zusammengenagelter Rahmen mit Folien als Wand und Tapete. Strom ist oft vorhanden, aber manuell verlegt, also gefährlich", beschreibt der Arzt sein Arbeitsumfeld.

"Je nach Besetzung wird in zwei oder drei Ecken des Raums an Campingmöbeln beraten und untersucht. Für mich musste eigens ein Übersetzer engagiert werden. Nach Konsultation wandern die Patienten mit den von uns erstellten Formularen zum Tisch der Apothekerinnen, der sich im selben Raum befindet. Dort wird alles gemacht, was sonst noch vor Ort möglich ist."

Dazu gehören laut Schmelzle die Medikamentenausgabe, Blutzucker- oder Urintests, Abfüllen von Salbe in kleinere Gebinde, Mischen von Kindersäften, Erläuterung der Anwendung von Verhütungssystemen oder die Assistenz bei kleinen Verbänden. Solch ein Setting habe Nachteile, zum Beispiel komme die Diskretion zu kurz, aber auch ein paar sehr angenehme Vorteile: "Nie konnte ich mich so schnell mit Kollegen oder der Apotheke kurzschließen", meint der 53-Jährige.

"Jeden Tag gibt es Probleme, die wir nicht lösen können"

"Heulende Kleinkinder werden mal kurz bei anderen Anwesenden rumgereicht. Die Familienanamnese ist schnell erhoben, weil alle da sind, leider meist mit Ausnahme der Männer", berichtet Schmelzle weiter. "Wie viele von ihnen im Krieg umgekommen sind, weiß ich nicht. Jeden Tag gibt es Probleme, die wir nicht lösen können. Hier beginnt der verantwortungsvollste Auftritt des libanesischen Field-Officers: Es muss rasch geklärt werden, welche Institution weiterhelfen kann und wer Kosten übernimmt."

Dazu der Salzstetter Allgemeinmediziner: "Liebe Deutsche, freut Euch über Eure vielbeschimpfte Krankenversicherung!"

Die häufigsten Krankheiten entsprechen, neben den überall üblichen Atemwegs-Infekten und orthopädischen Beschwerden, laut dem Arzt der Situation – kaputte Zähne, Scabies ("Krätze"), Pilzinfektionen, Schwangerschaftsbeschwerden, Fehl- und Mangelernährung, oft auch aus Unwissenheit, denn die Basisversorgung mit Essen scheint überwiegend gegeben. Auch Verletzungen an Fußsohlen kämen oft vor, weil die Kinder barfuß oder mit Flipflops unterwegs seien, auch im Winter. Dagegen seien es in Deutschland hauptsächlich Zivilisationskrankheiten – eine ganz andere Welt.

Schmelzle berichtet von einem Zwischenfall, als in der Region in einem Camp 80 provisorische Unterkünfte niederbrannten. Ein Kind sei dabei gestorben. Angeblich hätten die Einsatzkräfte sehr lange für die Anfahrt gebraucht. In den Unterkünften wird mit Gas gekocht, so dass mehrere Flaschen explodierten – eine große Gefahr, auch für die Einsatzkräfte.

Auch zum Fastenmonat Ramadan kann der Salzstetter Arzt etwas erzählen.  "Eine noch relativ junge Frau kam mit vier Kindern zur Sprechstunde. Wenig später kam sie mit sechs weiteren Kindern wieder. Diese hatte sie als Waisen aufgenommen. Ein Mädchen hinkte. Möglicherweise als Kriegsfolge, ich weiß bis heute nicht, was sie hatte. Zum Schluss bat die Frau noch um ein paar Vitamintabletten, damit sie den anstehenden Fastenmonat übersteht. Ein harter Weg in einem heißen Sommer, denn von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang ist Essen und Trinken nicht erlaubt. Leider konnten wir nur wenige Kranke überzeugen, dass der Koran auch Ausnahmen zulässt."

Zuwendung und Hilfe zu bekommen und ein Minimum an existenzieller Absicherung, so Michael Schmelzle, seien Mittel, um sich einem Abrutschen in Extremismus, Radikalisierung und Kriminalität entgegenzustellen. Wenn man auf Tuchfühlung gehe, mache man die Erfahrung, dass Menschen trotz riesiger kultureller Unterschiede doch sehr ähnlich ticken. Er habe im Libanon Gastfreundschaft erfahren.

Weitere Informationen: www.humedica.org