Bundestagspräsident Norbert Lammert sagte im Plenum: "Das, was mitten im Ersten Weltkrieg im Osmanischen Reich stattgefunden hat, unter den Augen der Weltöffentlichkeit, war ein Völkermord". Foto: dpa

Das Massaker, dem bis zu 1,5 Millionen Armenier vor 100 Jahren im Osmanischen Reich zum Opfer gefallen sind, wird nun auch vom Bundestag als Völkermord bezeichnet.

Berlin - Der Völkermord an bis zu 1,5 Millionen Armeniern vor 100 Jahren wird nun auch vom Bundestag beim Namen genannt. Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) sagte im Parlament: "Das, was mitten im Ersten Weltkrieg im Osmanischen Reich stattgefunden hat, unter den Augen der Weltöffentlichkeit, war ein Völkermord."

In der anschließenden Debatte wurde diese Einschätzung von Rednern aller Fraktionen geteilt. Noch vor der Sommerpause will der Bundestag dazu eine Erklärung verabschieden.

Merkel und Steinmeier schweigen

Mit der Debatte zum 100. Jahrestag der Massaker verabschiedete sich die deutsche Politik von der weitgehenden Praxis, den Begriff Völkermord aus Rücksicht auf die Türkei zu vermeiden. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) verfolgten die Aussprache von der Regierungsbank, ohne sich selbst zu Wort zu melden. Dagegen hatte Bundespräsident Joachim Gauck schon am Vorabend ohne Umschweife von Völkermord gesprochen.

Aus der Türkei gab es zunächst keine offiziellen Reaktionen. Im Ersten Weltkrieg waren Armenier im Osmanischen Reich als vermeintliche Kollaborateure systematisch vertrieben und umgebracht worden. Die Massaker begannen am 24. April 1915. Nach Schätzungen kamen dabei zwischen 200.000 und 1,5 Millionen Menschen ums Leben. Die Türkei als Nachfolgestaat des Osmanischen Reichs lehnt die Bezeichnung Völkermord vehement ab.

Deutsche Mitverantwortung

Lammert bekannte sich auch klar zur deutschen Mitverantwortung am damaligen Geschehen. Das Deutsche Kaiserreich war enger Verbündeter des Osmanischen Reichs. Der Bundestagspräsident betonte weiter: "Die heutige Regierung in der Türkei ist nicht verantwortlich für das, was vor 100 Jahren geschah. Aber sie ist mitverantwortlich für das, was daraus wird." Zugleich würdigte er die Bemühungen der Türkei, die infolge des Syrien-Kriegs mehr als eine Million Flüchtlinge aufgenommen hat.

Wegen des Streits um die Wortwahl hatte es in den vergangenen Tagen zwischen Bundesregierung, Koalitionsparteien und Präsidialamt viel Hin und Her gegeben. Die Bundesregierung wollte den Begriff eigentlich vermeiden. Steinmeier hatte davor gewarnt, die Auseinandersetzung auf einen einzigen Begriff zu reduzieren.

In der geplanten Erklärung des Bundestags, die mit den Koalitionsfraktionen abgesprochen wurde, heißt es nun über die Armenier: "Ihr Schicksal steht beispielhaft für die Geschichte der Massenvernichtungen, der ethnischen Säuberungen, der Vertreibungen, ja der Völkermorde, von denen das 20. Jahrhundert auf so schreckliche Weise gezeichnet ist." Nach der ersten Beratung geht der Text nun an die Ausschüsse. Er soll bis zum Sommer verabschiedet werden.

Opposition geht Erklärung nicht weit genug

Der Opposition aus Grünen und Linkspartei - und auch einigen Abgeordneten der Koalition - geht die Erklärung nicht weit genug. Sie warf der Bundesregierung vor, immer noch übertrieben Rücksicht auf die Türkei zu nehmen.

Grünen-Chef Cem Özdemir sagte: "Wir sind es den Opfern schuldig, dass niemand ausgelassen wird und alles beim Namen genannt wird." Die Linke-Abgeordnete Ulla Jelpke verlangte, mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan müsse endlich "Klartext" geredet werden. "Dieses Versteckspiel hinter sprachlichen Spitzfindigkeiten ist beschämend."

Die Südkaukasusrepublik Armenien gedachte gemeinsam mit Kremlchef Wladimir Putin und dem französischen Präsidenten François Hollande des Massakers an ihren Landsleuten vor 100 Jahren.

Putin rief bei einer bewegenden Zeremonie in der Hauptstadt Eriwan zu einem weltweiten Eintreten gegen Verfolgung auf. "Die internationale Gemeinschaft muss alles tun, damit sich die tragischen Ereignisse von einst nicht wiederholen", sagte er. Im Laufe des Tages wurden Hunderttausende Armenier an der Genozid-Gedenkstätte im Stadtzentrum erwartet, um dort Blumen niederzulegen.

Die Massaker im Osmanischen Reich begannen im 1. Weltkrieg am 24. April 1915 mit der Verhaftung Hunderter Intellektueller in Konstantinopel (Istanbul). Im Kampf gegen das christliche Russland warf die osmanische Regierung den Armeniern vor, mit dem Feind zu paktieren.

Der armenische Präsident Sersch Sargsjan dankte den Staaten, die die Massaker an bis zu 1,5 Millionen Christen im Osmanischen Reich als Genozid anerkennen. Die Türkei - Nachfolgerin des osmanischen Imperiums - weist den Vorwurf des Völkermords entschieden zurück. Sie räumt aber ein, dass damals Unschuldige getötet wurden.

In seiner Rede dankte Sargsjan jenen Türken, die sich an diesem Tag auf dem Taksim-Platz in Istanbul im Gedenken an die Verfolgung der Armenier versammeln wollten. "Sie sind starke Menschen, die für die gerechte Sache ihres Vaterlandes einstehen", sagte Sargsjan.

Hollande appelliert an die Türkei

Hollande appellierte an die Türkei, ihren Streit mit Armenien beizulegen. "Ich hoffe, dass sich die Grenze zwischen Armenien und der Türkei bald wieder öffnet", sagte er. Die Nachbarländer haben keine diplomatischen Beziehungen, und wegen der geschlossenen Grenze gibt es keinen Handel.

Putin warnte vor dem Aufkommen von Neofaschismus in manchen Regionen der Welt. "Antisemitismus und Russenphobie nehmen zu", meinte er. In der Krise zwischen Russland und dem Westen wegen des Ukraine-Konflikts beklagte Moskau zuletzt eine zunehmende Russland-Feindlichkeit.

Hollande und Putin waren die prominentesten unter den Staatsgästen bei der Zeremonie. Die Parlamente in Frankreich und Russland erkennen den Genozid an den Armeniern an. Zudem leben in den beiden Ländern große armenische Minderheiten. Für Deutschland nahm Staatsminister Michael Roth (SPD) teil.

Delegationen aus rund 60 Ländern kamen zu der Zeremonie nach Eriwan. Die Staatsgäste schritten einzeln zur Ewigen Flamme und steckten eine gelbe Rose in einen Kranz in der Form einer Vergissmeinnicht-Blüte. Die violette Blume mit gelbem Kern ist ein armenisches Symbol für das Gedenken an den Genozid.

Die armenische Kirche hatte am Vorabend Hunderttausende Opfer der Verfolgung kollektiv heiliggesprochen. Patriarch Karekin II. nannte bei dem Gottesdienst keine Namen und keine Opferzahl. Als Oberhaupt der armenischen Christen hat er das Recht, Heiligsprechungen vorzunehmen. Es war die erste Kanonisierung in der armenisch-apostolischen Kirche seit 400 Jahren.