Konzert am Vorabend des Holocaust-Gedenktages hinterlässt Publikum tief betroffen

Von Siegfried Kouba

VS-Villingen. Zum wiederholten Male hat sich der Klarinettist und Musikpädagoge Rainer Horcher zum Holocaust-Gedächtnis etwas einfallen lassen. "Mädchenhimmel" heißt sein Werk, das im Franziskaner aufgeführt wurde.

An Holocaust, die vollständige Vernichtung, das Verbrennen, möchten sich die Deutschen immer weniger erinnern. Nach jüngsten Umfragen wollen 81 Prozent nach 70 Jahren einen Schlussstrich ziehen, die Erinnerung an schreckliches Geschehen auslöschen. Die Verwundungen der Betroffenen sitzen tief. Eine Überlebende des "Vorzeige-KZs" Theresienstadt konnte Schuberts D-Dur-Militärmarsch nicht mehr hören. Doch will man Geschichte begreifen und Zukunft gestalten, ist Besinnung nötig.

Gegen das Vergessen komponiert Rainer Horcher. Im Chorraum des Franziskaners fand er eine beachtlich große Zuhörergemeinde, die auf "Mädchenhimmel" tief betroffen reagierte. Da tat sich die Frage auf – Applaus ja oder nein?

Horcher bot ein Gesamtkunstwerk, das gesprochenen Text, Schauspielkunst, Gesang und Instrumentalmusik verwob. Die Musik war eingängig und orientierte sich an den Gedicht- und Prosavorlagen der Kabarettistin und Schriftstellerin Lili Grün. Die 1904 in Wien Geborene wurde 1942 deportiert und im weißrussischen Vernichtungslager Maly Trostinec ermordet. Die Texte durfte man als autobiografischen Leitfaden verstehen. Schicksalhaft sah sich eine junge Frau dem Establishment und der großen Welt gegenüber. Ein Traum blieb: Der vom "Mädchenhimmel", in die die Frau des Chefs nicht hineinkommt.

Doch der Traum blieb im Finsteren, und viele unangenehme Themen keimten auf. Mit "Negermusik" vom Grammophon und Blick auf die Weltstadt Berlin der Zwanziger startete die Aufführung. Als ausgezeichneter Mime stand Robert Weippert zur Verfügung. Perfekt in schauspielerischer Kunst und Rhetorik schlüpfte er in die Rolle eines Schwarzen, der kaum im abgedunkelten Chorraum zu erkennen war.

In mehreren Etappen wurde an die Zeit der Zwanziger Jahre erinnert. "Negermusik", mondänes Leben, Arbeitssuche, Glamour, Sehnsüchte, eine Geld fordernde Hauswirtin, Regisseure mit Brille, Direktoren mit Monokel, Selbstzweifel, Männerdominanz sind nur Stichworte. Manches erinnerte an Otto Dix oder George Grosz.

Gesanglich setzte die Sopranistin Maria Martinez die Texte um. Mit heller, durchdringender Stimme zeichnete sie nuancenreiche Impressionen. In Natasa Dastelen (Violine), Rainer Horcher (Karinette), Dragan Djokic (Akkordeon), Amalia Pop (Klavier) und Frank Neu (Schlagwerk) standen ausgezeichnete Musiker zur Verfügung. Ihre Aufmerksamkeit, das Zuwerfen thematischer Bälle und die instrumentale Ausdrucksfähigkeit waren bewundernswert.

Moderne Musik wurde geboten, die die Stimmungen der Texte unterstrich. Heitere, kabarettistisch-hintersinnige Klänge reichten bis zu wehmütigen Szenen und hochdramatischen Akzenten. Klangschichtungen, Achtelbewegungen, Dissonanzen oder Synkopen wurden effektvoll eingebaut. Genauso fielen Klezmer-Fetzen oder Einwürfe von "Fräulein Helen", Beethovens Neunter und Deutschlandhymne auf. Deutlich zeigte der Haifisch seine Zähne – alles durch einen bombastischen Gongschlag beendet.