Winfried Kretschmann beim Parteitag der Grünen in Tuttlingen. Foto: dpa

Partei ruft sich in Tuttlingen zur "neuen Wirtschaftspartei" aus. Mit Digitalisierung Brücken zum Mittelstand schlagen.

Tuttlingen - Selbstbewusst haben sich die Grünen auf ihrem Parteitag in Tuttlingen zur "neuen klassischen Wirtschaftspartei« ausgerufen. Die Opposition findet das zum Lachen. Ihr Vorwurf: Anspruch und Wirklichkeit klafften weit auseinander.

Cem Özdemir, der Grünen-Bundesvorsitzende mit schwäbischen Wurzeln, ist höchst angetan von seinen Parteifreunden im Südwesten: die Offenheit für wirtschaftliche Themen. Davon könnten die Grünen ruhig mehr vertragen, meint Özdemir am Sonntag, am Tag zwei des heimeligen Grünen-Treffens in der Tuttlinger Stadthalle vor Journalisten. Soll heißen: Der Parteitag der baden-württembergischen Grünen ist zur Nachahmung empfohlen.

Besonders dessen wirtschaftliche Ausrichtung, die sich in Leitanträgen zu den Themen Innovation und Mobilität ausdrückte. "Wir müssen die Nähe zur Wirtschaft suchen und durchgängig Wirtschaftsvertreter auf Parteitage einladen«, sagt Özdemir.

Wirtschaft und Grüne im Gespräch – so will es Kretschmann, so gefällt’s Özedmir. Strategisch sieht der Grünen-Chef darin eine große Chance. Nach dem "Verschwinden« der FDP könnten die Grünen als Ansprechpartner für die Wirtschaft auftreten, insbesondere für die Mittelständler. "Die jungen Unternehmer wollen nicht zurück zu den alten Tagen«, sagt Özdemir. Er meint die Zeiten, in denen die CDU regierte. Daraus leitet er ab: "Wirtschaftspolitik ist wie ein leeres Fußballtor, das nicht mehr verteidigt wird. Wir haben einen Elfer bekommen und müssen ihn nur reinmachen.« Ganz ähnlich drückte sich tags zuvor Kretschmann in seiner flammenden Rede über die Bedeutung der Digitalisierung für das künftige Wohl des Landes aus: "Wir müssen eine neue klassische Wirtschaftspartei werden«, forderte er vehement.

Die Reaktionen der bisherigen "klassischen Wirtschaftsparteien« bleiben nicht aus. Sie schäumen. "Die Grünen eine Wirtschaftspartei – da müssen sie aufpassen, dass die Hühner nicht nur im Kreis Tuttlingen lachen«, ließ FDP-Fraktionschef Hans-Ulrich Rülke verlauten. "Kretschmanns Handeln ist wirtschaftsfeindlich bis auf die Knochen.« Als Beispiele nennt er das Tariftreuegesetz, das Bildungsfreistellungsgesetz und die verschärfte Landesbauordnung.

Auch CDU-Landeschef Thomas Strobl konterte umgehend: Kretschmann biete "nichts als Worte«. Am Freitag habe seine Regierung noch "heimlich« im Umlaufverfahren den Bildungsurlaub beschlossen, gegen den die Wirtschaft zu Recht Sturm laufe. "Worte und Taten liegen bei Kretschmann so weit auseinander wie Tuttlingen und Tunesien.«

Die Südwest-Grünen sind – zwei Wochen vor dem Grünen-Bundesparteitag in Hamburg – gut in Form. Rhetorisch allemal. Das zeigt der Auftritt Kretschmanns, der seine Zustimmung zum Asylkompromiss über sichere Herkunftsstaaten mit einer eindrücklichen Rede erläutert ("Ich habe die Verantwortung als Ministerpräsident, dieses Land in dieser Frage zusammenzuhalten«) und es zugleich schafft, die Rolle der Grünen als "Anwalt der Flüchtlinge« zu betonen: "Wir müssen die Flüchtlinge nicht irgendwie unterbringen, sondern gut.«

Rhetorisch stark ist erwartungsgemäß auch der siegreiche Grünen-Oberbürgermeister von Tübingen, Boris Palmer. Er preist Winfried Hermann "als besten Verkehrsminister der Landesgeschichte«, mahnt ihn im selben Atemzug jedoch, nicht abzuheben, "weil der Maßstab nicht sehr hoch ist«. Zudem hat er ein Rezept für erfolgreiche Wahlen. Dazu gehört: "Einen Draht zur Wirtschaft zu haben.« Diese Voraussetzung sieht Palmer mit Blick auf die Landtagswahl 2016 erfüllt, denn: "Kretschmann ist ein Wirtschaftsversteher.« Palmer fuhr mit dem Zug von Tübingen nach Tuttlingen und anschließend mit dem Fahrrad zur Stadthalle.