Umgeknickte Strommasten in der Nähe von Münster: Nach starken Schneefällen knickten im November 2005 Strommasten um. Foto: dpa

Stromnetze, Bahntrassen, Wasserleitungen – Deutschland hat eine vernetzte Infrastruktur. Ein Ausfall hätte dramatische Folgen. Auf Notfälle ist das Land schlecht vorbereitet, sagt Experte Stephan Boy.

Berlin – Stromnetze, Bahntrassen, Wasserleitungen – Deutschland hat eine vernetzte Infrastruktur. Ein Ausfall hätte dramatische Folgen. Auf Notfälle ist das Land schlecht vorbereitet, sagt Experte Stephan Boy.

Herr Boy, in letzter Zeit ist immer wieder die Gefahr großer Stromausfälle in Deutschland beschworen worden. Was passiert, wenn wichtige Infrastruktur ausfällt?
Dann wird es wirklich unangenehm. Die Vernetzung unserer Gesellschaft ist heute extrem hoch. Eines hängt vom anderen ab. Als beispielsweise im vergangenen Herbst in München großflächig der Strom ausfiel, gingen kurz danach auch in Frankfurt die Lichter aus. Der Grund: Die Straßenlaternen in Frankfurt wurden aus München gesteuert. Parallel dazu wurden in den vergangenen Jahren bundesweit Doppelstrukturen abgebaut. Früher hatten viele Industriebetriebe, Flughäfen oder Wasserwerke eigene Kraftwerke. Um effizienter zu werden und Kosten zu sparen, wurden sie eingemottet. Damit sinken aber auch die Risikopuffer für den Krisenfall.

Ernstfälle sind in den vergangenen Jahren aber fast nie eingetreten.
Es stimmt, dass Deutschland seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs von echten nationalen Katastrophen weitgehend verschont wurde. Nimmt man die Sturmflut in Hamburg 1962 oder das Oderhochwasser 1997 aus, gab es keine echten Großschadensfälle. Das hat zu dem Glauben geführt, dass technische Systeme immer und überall funktionieren und verfügbar sind. Entsprechend sinkt die technische Vorsorge, aber auch die Wahrnehmung in der Bevölkerung.

Wir sind also zu sorglos?
Unsere Verhaltensweisen haben sich jedenfalls daran angepasst, dass Katastrophen lange nicht mehr eingetreten sind. Nehmen wir die Lebensmittelversorgung. An jeder Ecke gibt es heute Supermärkte. Der Grund ist: Die Deutschen leben von der Hand in den Mund – „just in time“. Bevorratung ist nicht mehr üblich, die Speisekammer ist im Grundriss moderner Wohnungen nicht mehr vorgesehen. Es gibt ja den Kühlschrank. Darin liegen allerdings Waren, die bei Stromausfällen schnell verderben. Da auch Supermärkte aus Kostengründen auf Lagerhaltung verzichten, wird das System extrem verletzlich. Untersuchungen haben gezeigt, dass die Supermärkte in Ballungsräumen im Ernstfall in einem halben Tag leergekauft sind. In den Kühlhäusern an der Peripherie reichen die Vorräte einen Tag.

Die Katastrophenvorsorge ist in Deutschland also unzureichend?
Zumindest die Vorsorge für Blackouts (große Stromausfälle, die Redaktion) ist unzureichend. Auch an der Information der Bevölkerung im Krisenfall hapert es. Das flächendeckende Sirenensystem ist nach Ende des Kalten Kriegs abgebaut worden. Es existiert heute allenfalls noch als Flickenteppich. Man verlässt sich stattdessen eher auf digitale Medien oder Facebook, Twitter und You Tube. Diese Digitaltechnologie ist aber sehr störanfällig. Das ist fatal. Man weiß, dass das Informationsbedürfnis der Menschen schon bei kleinen, regionalen Ernstfällen stark ansteigt. Wenn es nicht befriedigt werden kann, steigt die Sorge und das Chaos.

Wo sehen Sie die Achillesferse im System?
Es gibt mehrere kritische Felder. Die Zahl der Extremwetterereignisse wie Starkregen, Stürme oder Hochwasser steigt. Auch wenn das oft keine großflächigen Verwerfungen provoziert, werden die angespannten Situationen zunehmen. In puncto Technik sieht es ähnlich aus, und zwar schlicht, weil die Komplexität der Systeme steigt und damit auch deren Versagenswahrscheinlichkeit zunimmt. Zum anderen haben wir es derzeit mit großen Umbrüchen zu tun. Die Energiewende etwa krempelt ein absolut zuverlässiges System völlig um. In der Übergangszeit sind wir in einer sehr heiklen Phase. Das soll nicht heißen, dass die Energiewende zwangsläufig zu Blackouts führt, man muss die Gefahr eines flächendeckenden Stromausfalls aber sehen.

„Ein großflächiger Stromausfall ist eine dramatische Situation“

Was wären die Folgen?
Ein großflächiger Stromausfall ist eine dramatische Situation. Nicht nur die Netze brechen dann zusammen, sondern auch Kraftwerke schalten sich ab. Experten gehen davon aus, dass es mehrere Tage dauern wird, bis die Stromversorgung überall wieder hergestellt werden kann. In Fachkreisen hört die Fantasie aber bereits nach 48 Stunden ohne Strom auf. Welche Langzeitfolgen dann auftreten, kann man sich kaum ausmalen.

Dann ist das Chaos also komplett?
Kurz nach dem Stromausfall geht die Wasserversorgung in die Knie. Vor allem in Ballungsräumen ist sie von Pumpen abhängig, die nicht alle mit Notstromaggregaten gekoppelt sind. Trinken und Toilette-Spülen wird unmöglich. Eine Faustregel besagt, dass ein Hochhaus innerhalb der ersten 24 Stunden nach einem Stromausfall evakuiert werden sollte. In der Kanalisation sammeln sich Fäkalien, die unkontrolliert austreten. Der Nahverkehr bricht zusammen. Mit den Auswirkungen solcher Ereignisse würde das Land wochenlang kämpfen.

Sind die Strukturen schuld?
Der Föderalismus bedingt in den Bundesländern fragmentierte Zuständigkeiten im Katastrophenschutz. Nehmen Sie das Beispiel Brandenburg. Auf Landes-, Kreis- und Stadtebene gibt es allein 19 verschiedene Katastrophenschutzstäbe, dazu kommen Verantwortliche in den Gemeinden. Diese müssen im Notfall mit mehreren Hundert öffentlichen und privaten Unternehmen aus insgesamt neun Sektoren der kritischen Infrastrukturen, etwa im Energie-, Gesundheits- oder dem Telekommunikationsbereich kommunizieren. Ähnliches können Sie für jedes einzelne Bundesland durchexerzieren. Am Ende kommen Sie zu einer Komplexität, die allein die Feststellung der Schäden zu einer Herkulesaufgabe werden lässt.

Sind solche Schwachpunkte nach den Anschlägen des 11. September nicht auch bei uns genauer beleuchtet worden?
Es geschieht schon etwas. Es gibt regelmäßige länderübergreifende Katastrophenübungen. Der Bund ist auch nicht untätig. Die Grundherausforderung der zersplitterten Zuständigkeiten bleibt aber.

Wie gut ist der Schutz vor terroristischen Anschlägen?
Nach unserer Kenntnis verfügt Deutschland über exzellente Einrichtungen beim Bundesnachrichtendienst und der Polizei der Länder und des Bundes. Diese Stellen wehren viele Bedrohungen ab. Sie arbeiten allerdings ziemlich geräuschlos. Das Immunsystem des Staates ist in diesem Punkt intakt. Andererseits ist auch klar, dass man sich keine Fehler leisten kann. Mit nur geringem Aufwand könnten Terroristen dem Land und seinen Bürgern nämlich erheblichen Schaden zufügen.

Wie kann das System verbessert werden?
Die bestehenden Systeme, etwa die Strom-, aber auch die Wasserversorgung und die Datennetze müssen gezielt auf Schwachstellen untersucht werden. Das würde die Widerstandsfähigkeit schon sehr stärken. Darüber hinaus müssen die Verantwortlichen bei den Betreibern kritischer Infrastrukturen besser vernetzt werden, um Schadensfälle schnell erfassen und bekämpfen zu können. Mit am wichtigsten ist es aber, die Kommunikationsnetze sattelfest zu machen. Ohne ausreichende Information wird aus einer Krise schnell Chaos.