Das Lehengerichter Rathaus im Schiltacher Vorstädtle mit dem Gemeindewappen (um 1960). Foto: Harter Foto: Schwarzwälder-Bote

Lehengericht: Vor 70 Jahren: "Eine Entrechtung und Knechtung der Landwirte" / Erst nach weiteren Anläufen 1974 vollzogen

Von Hans Harter

Anfangs 1946 gab es im Rathaus der Gemeinde Lehengericht Alarm: Nicht wegen einer Maßnahme der Besatzung, etwa Ablieferung von Holz, Vieh oder Kartoffeln, auch nicht wegen der neuerlichen Zuweisung von Flüchtlingen aus den deutschen Ostgebieten.

Schiltach. Grund für die Aufregung war der Schiltacher Bürgermeister Paul Wolber: Handstreichartig forderte er beim französischen Gouverneur und beim Landrat in Wolfach die "Wiederherstellung der alten Gemarkungsgrenzen Schiltachs".

Diese "Grenzbereinigung", wie er harmlos schrieb, hatte es in sich: Mit ihr wollte er zurück vor das Jahr 1817, als Lehengericht noch zur Stadt Schiltach gehörte, zwar mit einigen eigenen Rechten, aber doch vom dortigen Rathaus regiert. In ihm waren derartige Pläne nicht zum ersten Mal ausgeheckt worden: Schon 1924 wiesen die Lehengerichter eine Eingemeindung ab, "mit allen gegen eine Stimme".

Landtag eingeschaltet

1932 schaltete Schiltach sogar den Landtag ein, der die Eingemeindung empfahl, was infolge der NSDAP-Machtübernahme nicht mehr zum Tragen kam. Das "Dritte Reich" sah für diese Frage weiter keine Eile, die nun, nach gerade überstandenem Krieg, erneut aufgerollt wurde.

Platzmangel in Schiltach

Grund war das Missverhältnis bei Bevölkerung und Gemarkung: Schiltach hatte 2750 Einwohner auf 588 Hektar Fläche und litt unter Platzmangel für Wohngebiete und Gewerbe, in Lehengericht lebten nur 900 Einwohner auf 2713 Hektar und es gab zwei große Betriebe, die Tuchfabrik Karlin am Hohenstein und das Junghans-Zweigwerk im Welschdorf, die "starke Steuerquellen" waren. Viele Arbeiter kamen aus Schiltach, wo für sie Wohnraum, Wasser und Strom bereitgestellt werden musste. "Auch konnte eine Gemeinde mit 4000 Einwohnern größere Geltung und Vorteile erwirken, als eine von noch nicht 1000."

Bürgermeister wehrt sich

Damit nicht einverstanden war Lehengerichts Bürgermeister Wilhelm Bühler, Eulersbacher, der seit 1924 amtierte. In einer vom Gemeinderat unterschriebenen Darstellung fand er starke Worte: "Man will sich Lehengericht absolut unterwerfen, damit den eigenen Machtbereich vergrößern und die eigenen Lasten abwälzen," doch hatte er auch gewichtige Gegengründe: Als "Bergbauern- und Arbeitergemeinde" habe Lehengericht andere Strukturen als das "verstädterte" und sich als "Luftkurort" gebende Schiltach. Niemals dürften bäuerliche Nutzflächen aufgeteilt werden, dies sei eine "Entrechtung und Knechtung der Landwirte". Sie könnten auch keine typisch städtischen Aufgaben mittragen, da sie aufgrund der "Streulage der Wohn- und Betriebsstätten" mehr als doppelt so hoch belastet waren: Sie mussten nicht nur Gemeindesteuern zahlen, sondern auch selber für die Brücken und Wege zu ihnen aufkommen. Da kein Stromnetz bestand, hatten sie nur kleine Licht- und Kraftanlagen, die ihnen gleichfalls zur Last fielen, ebenso die Versorgung mit Trinkwasser durch hofeigene Quellen. Zusätzlich könnten sie keine Lasten übernehmen: "Es würde in Kürze zu einer absolut gerechten Empörung und zum Ruin der Bevölkerung führen."

Vorstoß von 1946 erfolglos

Der Vorstoß von 1946 blieb erfolglos, Lehengericht konnte seine Eigenständigkeit bewahren. Doch sah es sich 1952 erneut Vereinnahmungsbestrebungen ausgesetzt, denen es sich durch einen politischen Coup entzog: 1956 "schluckte" es das Reichenbächle, das bisher zu Lauterbach gehörte, und konnte so seine Gemarkung arrondieren. Die anfangs der 1970er-Jahre von der Landesregierung in Gang gesetzte Gemeindereform, die "Mini-Gemeinden" für nicht mehr tragbar erklärte, machte schließlich auch der Selbständigkeit Lehengerichts den Garaus: Die Bürgermeister Peter Rottenburger und Gustav Kramer erreichten eine gütliche Übereinkuft über die freiwillige Eingliederung in die Stadt Schiltach, die am 1. April 1974 wirksam wurde.

Lehengericht erhielt die Ortschaftsverfassung, die es als Ortsteil mit bestimmten Rechten etwa so behandelt, wie es vor 1817 der Fall war. Doch war dies auch das Ende der kommunalen Selbstverwaltung, die immerhin 157 Jahre bestanden hatte.