Brief geht in das Land mit dem X

Was wie ein lustiges Kinderspiel klingt, hatte in Wirklichkeit einen ernsten Hintergrund. Der Briefeschreiber aus der Bundesrepublik in die DDR stand bis in die 1970er-Jahre vor einem handfesten Problem: Die beiden deutschen Staaten hatten sich gegenseitig nicht anerkannt. Was nach ferner Politik klingt, bedeutete aber, dass die üblichen Länderkennzeichen vor den Postleitzahlen nicht Verwendung finden durften. Wie sollte die eigene Nachricht aber nun den Weg über die Grenze finden? Die praktische Lösung lautete, auf dem Weg von Ost nach West vor die Postleitzahl eine Null zu stellen. In der Gegenrichtung stand vorn ein X. Das Ziel des Briefs war nun eindeutig zuzuordnen, der Name des ungeliebten Bruderstaats blieb jedoch ungenannt.

Mit dem Grundlagenvertrag 1972/73 zwischen beiden deutschen Staaten war diese Frage obsolet geworden. Offiziell konnten nun auf den Briefen die international üblichen Kürzel D und DDR verwendet werden. Der in der Ausstellung "Über Grenzen hinweg. Als der Bundespräsident aus Schiltach kam und weitere Geschichten" gezeigte Brief ging 1975 auf den Weg von München nach Lauen-stein. Übrigens: In späteren Jahren wurde Lauenstein ein Ortsteil von Schiltachs Partnerstadt Geising – das X war aber noch da. Zwar hatten sich Deutschland-Ost und Deutschland-West inzwischen gegenseitig anerkannt, doch nicht jeder Briefschreiber wollte die neuen Länderkürzel akzeptieren. Während das D beanspruchte, für ganz Deutschland zu sprechen, vertrat das Adjektiv "demokratisch" im Kürzel DDR einen Anspruch, den der SED-Staat zu keiner Zeit einzulösen bereit war. So ging der Brief zwischen zwei Freundinnen, deren gemeinsame Kindheit durch die Flucht einer Familie in den 1950er-Jahren in den Westen räumlich getrennt wurde, auch noch 1975 mit einem X auf den Weg. Das inzwischen überholte Kürzel hatte sich über Jahrzehnte aber so etabliert, dass der Brief sein Ziel fand.