Sorge und Unverständnis in Kaltbrunn: Der 71-Jährige, der am Freitagabend bei einem Nachbarschaftsstreit mit einem Revolver amokmäßig durch die Wohnungstür geschossen hat, ist wieder frei. (Symbolfoto) Foto: Hopp

Nachbarn nach Vorfall in Sorge. Behörden schieben Verantwortung im Kreise herum. Eskalation mit Ansage?

Schenkenzell-Kaltbrunn - Sorge und Unverständnis in Kaltbrunn: Der 71-Jährige, der am Freitagabend bei einem Nachbarschaftsstreit mit einem Revolver amokmäßig durch die Wohnungstür geschossen hat, ist wieder frei. Zwar beschlagnahmte die Polizei bei ihm insgesamt 18 Schusswaffen. Aber im Mehrfamilienhaus herrscht nach der Rückkehr des Schützen ein flaues Gefühl. Es war nicht der erste Knatsch im Haus, allerdings der bislang schockierendste. Eine Eskalation mit Ansage?

Die 58-jährige Nachbarin rang auch am Montag immer noch um Fassung. In der Wohnungstür, durch die der 71-Jährige am Freitag gegen 21.15 Uhr gefeuert hatte, ist ein Loch, ebenso im Holzfußboden davor. Das Projektil aus der großkalibrigen Waffe hat die Polizei sichergestellt. "Durch das Loch kann ich meinen kleinen Finger stecken", sagt die Frau, "wäre jemand vor der Tür gewesen, er hätte tot sein können." Ihr Mann sei gottseidank neben der Tür gestanden, als der Schuss fiel.

Die Frau fragt sich, wann sie einen Fehler gemacht hat: Als sie am Freitag auf die Beschimpfungen des Nachbarn reagiert hatte, oder schon viel früher. Es sei nicht das erste mal, dass der Nachbar ausgeflippt sei. Wäre es besser gewesen, schon vorher Anzeige zu erstatten? Der 71-Jährige sei schon einmal auf ihren Mann (63) losgegangen, mit einem Besenstil. Aber das Paar, eine von sieben Mieterparteien im Mehrfamilienhaus der Gemeinde Schenkenzell, wolle eigentlich nur eins: "Unsere Ruhe haben."

Alleinstehender war schon mit Stock auf Nachbarn losgegangen

Seit rund zweieinhalb Jahren wohnt das Ehepaar nun in dem Haus, es habe "in regelmäßigen Abständen" Ärger mit dem heute 71-Jährigen gegeben, der die Frau mal als "blöde Kuh" beschimpft habe, aber auch schon mal mit dem Auto in ihre frische Wäsche gefahren sei – mit dem Hinweis, die Wäscheleine hänge auf seinem Parkplatz. Daraufhin sei die Gemeinde als Vermieterin des ehemaligen Bauernhofs eingeschritten und habe schriftlich geregelt, wer welchen Platz auf dem Hof benutzen darf.

Am Freitag war es anders als sonst. Die Frau ging mit dem Hund spazieren, der 71-Jährige habe sie beobachtet, wie so oft. Auf die Beleidigung in die Richtung, sie sei "die Dümmste", die ihm jemals begegnet sei, reagierte die Frau diesmal und erwiderte, dann gebe es ja doch Gemeinsamkeiten. "Ich habe ihn noch gefragt, ob ich ihm helfen kann", so die Frau. Der Mann sei alleinstehend und raste offenbar immer dann aus, wenn er Probleme habe. Führerschein und Auto seien ihm auch schon abgenommen worden. Das konnten die Behörden gestern auf Anhieb weder bestätigen noch dementieren.

Bei ihrer Rückkehr sei es dann weitergegangen mit Provokationen. In der Tenne, auch Eingang des Ehepaars zu ihrer Wohnung, habe der 71-Jährige immer wieder das Licht ausgeknipst. Sie sei im Dunkeln gestanden und habe irgendwann um Hilfe gerufen. Ihr Mann sei gekommen und habe die Haustür des Nachbarn zugedrückt, damit sie überhaupt den Flur habe passieren können. Dann knallte es. Ihr Mann habe gerufen: "Bleib weg, hier wird geschossen." Die Frau erklärt, das habe sie erst gar nicht registriert. "Einen Schuss hätte ich mir anders vorgestellt", sagt sie, "das klang ganz dumpf, eher so, als ob jemand mit der Faust gegen eine Holzwand haut."

Dann alarmierte das Paar die Polizei. Vier uniformierte Polizisten des Reviers Schramberg rückten an, dann noch drei Beamte des Kriminal-Notdienstes. Sie hätten den Mann und sein Waffenarsenal mitgenommen. Laut Polizei ließ sich der 71-Jährige widerstandslos verhaften. Allerdings beschreiben die Nachbarn, er habe die Polizei erst nicht in seine Wohnung gelassen.

Mittlerweile ist der 71-Jährige wieder zu Hause, und bei den Nachbarn herrscht nach eigenem Bekunden seither Beklemmung. Warum ist der Mann wieder auf freiem Fuß? Und warum darf jemand, der offensichtlich Probleme hat, ein ganzes Arsenal an Schusswaffen in seiner Wohnung bunkern? Die Kugel schlug im unteren Drittel durchs Türblatt und von dort in den Holzboden, was die Strafverfolger offenbar so auslegen, dass es zumindest wohl keine Tötungsabsicht gab. Rechtlich durfte der 71-Jährige die Waffen besitzen, er ist ehemaliger Jäger. Und so hatte jede einzelne Behörde vielleicht nur Teilwissen, Stücke eines Puzzles, das sich am Freitag plötzlich zusammenfügte – mit glimpflichem Ausgang.

Laut Schusskanal sollte der Kontrahent wohl nicht getroffen werden

Die Behörden reichen indessen die Verantwortung erst mal weiter im Kreise herum. Ein Sprecher der Polizeidirektion Tuttlingen verweist darauf, dass die Ermittlungen noch am Laufen und Auskünfte Sache der Staatsanwaltschaft Rottweil seien. Da die Staatsanwaltschaft den Schuss durch die geschlossene Tür lediglich als versuchte schwere Körperverletzung einstufe, bestehe auch kein Haftgrund, so die Polizei. Die Staatsanwaltschaft erklärt auf Nachfrage, sie warte zunächst auf die Akten. Ein Haftbefehl sei von ihr nicht beantragt worden, weil es keine Hinweise auf die Notwendigkeit einer "möglichen Gefahrenabwehr" gebe. Anhaltspunkte hierfür vorzulegen, sei "Aufgabe der Polizei". Die Strafermittler konzentrieren sich derzeit offenbar eher auf den Fall von versuchtem zweifachem Mord in Sulz. Und der Waffenbesitz? Sei Sache des Landratsamts.

Dass der 71-Jährige dazu neigt, die Beherrschung zu verlieren, hätte bekannt sein können, etwa der Gemeinde, die nicht nur Vermieterin ist, sondern auch so genannte "untere Polizeibehörde". Passiert ist nichts. Juristisch ausgestanden ist der Vorfall für den 71-Jährigen natürlich auch noch nicht.

Die Nachbarn sind trotzdem fassungslos: "Was macht er als nächstes?" Dem alleinstehenden 71-Jährigen wünschen sie nichts Böses: "Wahrscheinlich bräuchte er einfach Hilfe. Aber er lässt sich nicht helfen. Es kommt kaum einer an ihn ran."