1991: Intensive Diskussionen und fast einstimmige Beschlüsse / Echte Narren kennen keine Verbote

Von Andreas Pfannes

Rottweil. Als der Morgen des 6. Januar, Dreikönig, anbrach, ein Sonntagmorgen im Jahre 1991 übrigens, jauchzten die Herzen der Narren in Rottweil. Fasnet. ’s goaht dr’gega. Die Abstauber formierten sich in der "Flasche". Sie warteten darauf, dass sie vom Narrenmeister auf ihr Tagwerk vorbereitet werden, und wussten, dass sie sich am Abend im "Apfel" treffen würden. Narrenmeister Alo Schellhorn verkündete vor 150 Anwesende: "Mit der Rottweiler Fasnet kann auch 1991 nichts mehr schief gehen." Selten jedoch lag er so schief.

Tausende Kilometer südöstlich wurden auch Reden geschwungen. Auch da ging es dagegen. Jedoch überhaupt nicht unter dem Motto der Fasnet: "Jedem zur Freud’ und niemand zu Leid." Ganz im Gegenteil. Anfang August 1990 hat der Irak Kuwait überfallen und annektiert. Jetzt drohte der amerikanische Präsident George Bush senior dem irakischen Diktator Saddam Hussein mit Krieg, falls er sich nicht aus Kuwait zurückziehen sollte. Saddam wiederum, keineswegs schüchtern, kündigte in diesem Falle die "Schlacht aller Schlachten" an. Kriegsrhetorik, denen bald Taten folgen sollten.

Doch was hat dies mit der Fasnet zu tun, könnte sich 25 Jahre danach ein Narr fragen, der sich auf den Narrensprung freut, der am Fasnetsmontag, 8 Uhr, durchs Schwarze Tor will? Selbst wenn es saniert wird? Kriege gehörten seit dem Zweiten Weltkrieg zum Alltag in der Welt. Traurig, aber wahr. Und die Fasnet wurde deswegen nicht wesentlich tangiert. Doch dieses Mal, im Januar 1991, war so manches anders.

Werner Mezger, Rottweiler Bürger, Professor für Volkskunde in Freiburg, der Fachmann für Fastnachtsfragen schlechthin, erinnert sich an die besondere Stimmung des Jahres 1991. Deutschland wurde 1990 Fußball-Weltmeister. Die Wiedervereinigung war im Gange, Euphorie nach dem Auflösen des Ostblocks allerorts zu spüren: Künftig werde es keinen Krieg mehr geben. Und plötzlich, so Mezger, habe man gemerkt, dass die Welt doch nicht so friedlich sei wie in dieser idealistischen Vorstellung. Die Verwandlung in eine Psychose folgte.

Ein salopper Spruch

Auslöser war ein salopper Spruch des Mainzer Fasnachters Bernd Mühl, damals Sitzungspräsident der bekannten Fernsehsendung "Mainz bleibt Mainz". Am Ende einer längeren Pressekonferenz, die sich um die Fernsehsendung gedreht habe, so hat es Mezger von Mühl erfahren, sei ihm, Mühl, während des Hinausgehens noch die Frage zugerufen worden, was denn sei, wenn der Krieg ausbreche. Und Mühl habe geantwortet: "Dann lassen wir alles ausfallen."

Diese Aussage wurde schnell publik, kam von Mainz nach Köln ("Kölle alaaf") und entwickelte eine Eigendynamik, entstanden durch medialen Druck, wie Werner Mezger anmerkt. Damaliges Horrorszenario unter Karnevalisten und Narren: Aktivisten kommen und beschmutzen mit Farbbeuteln die Kleidle. Diese Eigendynamik erreichte schnell den Südwesten. Werner Mezger erlebte die Absage hautnah mit: bei der Hauptversammlung der Vereinigung Schwäbisch-Alemannische Narrenzünfte in Ehingen.

1991 war am 7. Februar der Schmotzige, Fasnetsmontag der 11. Februar. Die altehrwürdige Rottweiler Narrenzunft ihrerseits traf sich am Sonntag, 20. Januar, zur Hauptversammlung. Mittlerweile waren bereits in Rottweil und Umgebung etliche Bälle abgesagt. Bei anderen wurde überlegt, auf Schlagerzeilen wie "Schnaps, das war sein letztes Wort, dann trugen ihn die Englein fort", "Wir kommen alle, alle in den Himmel" oder das schmissige "bumms fallera" besser zu verzichten.

Alo Schellhorns Sorge

Die Vereinigung Schwäbisch-Alemannische Narrenzünfte und der närrische Freundschaftsring Neckar-Gäu empfahlen ihren Mitgliedern, Fasnetstermine zu streichen. Mit einer überwältigenden Mehrheit – gerade einmal fünf oder sechs Gegenstimmen wurden im überfüllten katholischen Gemeindehaus gezählt; zwei waren Narrenrat Winfried Hecht und Ulrich Hezinger – schloss sich die Zunft dieser Anregung an. Mit einem kleinen Schlupfloch allerdings: bei einer gravierenden weltpolitischen Veränderung den Narrensprung kurzfristig zu organisieren.

Die Diskussion war teilweise heftig. Der nach 27 Jahren scheidende Narrenmeister Alo Schellhorn verteidigte die Empfehlung des Ausschusses der Narrenzunft. Er widersprach, dass es Druck der Medien gegeben habe. Auch habe die Rottweiler Zunft nicht die Entscheidung bei anderen Zünften "abgeschaut". Vielmehr sei die Sorge vor Gegendemonstrationen bei den Narrensprüngen sehr groß; mögliche Gewalttätigkeiten würden dem Ansehen, dem Brauchtum der Rottweiler Fasnet schaden.

Entscheidend jedoch: Bei der derzeitigen Lage – am 16. Januar hatte die Operation Wüstensturm, hatten die Luftangriffe der USA und ihrer Verbündeten zur Verwirklichung der UN-Resolution 678 begonnen – könne keine Freude an der Fasnet aufkommen. Eine endgültige Entscheidung sollte schließlich bei der Vollversammlung der Zunft am 3. Februar fallen.

Im Westen ging Kriegsfurcht um wie zuletzt 1962 nach der Kubakrise. In Stuttgart wurde Erwin Teufel zum Ministerpräsidenten gewählt (dies hatte allerdings nichts mit dem Irak oder der Fasnet zu tun, sondern war eine Folge des Rücktritts von Lothar Späth wegen der Segeltörn-Affaire). Die Gewerkschaft DGB im Landkreis Rottweil begrüßte die Absage der Fasnet.

In Rottweil ging es Schlag auf Schlag. Es wurden kurze Zeit später Hamsterkäufe (Grundnahrungsmittel) registriert. Die Schmotzigen-Gruppen zeigten keine Lust aufzutreten, die Stadt lud ihre Gäste für den Narrensprung aus, das Narrenblättle soll laut Zunft nicht erscheinen. Weitere Zünfte wie die altehrwürdigen aus Wilflingen, Wellendingen und Deißlingen, aber auch jüngere wie jene aus Villingendorf sagten Fasnetsveranstaltungen ab.

Heimatgebundenes Ereignis

Doch es gab ebenso Stimmen, die sich nicht dem allgemeinen Tenor anschlossen. Hans Jörg Deck, später Vater des "Dicken Weibes", rief in einem Leserbrief die Bedeutung der Rottweiler Fasnet in Erinnerung. Sie sei ein heimatgebundenes Ereignis mit einem melancholischen Einschlag. Sie sei etwas Ernsthaftes und diene nicht zuletzt eher der interpersonellen Wahrheitsfindung und Konfliktbewältigung. Und er wies darauf hin, dass sich echte Narren nicht von Verboten abschrecken lassen; er erinnerte an das Trotzdem nach dem Ersten Weltkrieg. Fasnet sei der Inbegriff der Heimatsehnsucht im Zweiten Weltkrieg für nicht wenige Kriegsteilnehmer gewesen. Hans Jörg Deck zog das Fazit: Andere Fastnachten seien nur bedingt vergleichbar mit jener in Rottweil.

Dieter Albrecht empfahl, dass es jedem Narr selber überlassen werden solle, am Fasnetsmontag und -dienstag vor dem Schwarzen Tor zu stehen. Und Dieter Höffkes wünschte, Fasnet durch die Hintertür zu feiern. Dass der Frohsinn nicht gänzlich verpönt war, zeigte sich übrigens Ende Januar im ausverkauften Festsaal der Gymnasien beim "Festival do Brasil" mit Lambada und weiteren fröhlichen Rhythmen.

Eine größere Öffentlichkeitswirkung hatten freilich in Rottweil Mahnwachen auf dem Kapellenhof, Unterschriftensammlungen, Friedensgebete, eine Friedensdemonstration von Schülern und Veranstaltungen der überparteilichen Initiative "Kein Blut für Öl", die die Fasnetsabsage begrüßte. Die aber außerdem mitteilte, dass sich kein Narr, der an einem Narrensprung teilnehme, fürchten müsse, von Demonstranten belästigt oder ausgepfiffen zu werden.

Ämter arbeiten

Das Ordnungsamt der Stadt erklärte, der Fasnetsmontag werde ein normaler Montag sein (somit Autos und Busse in damals gewohnter Weise durchs Schwarze Tor fahren). Geschäfte werden öffnen, Ämter und Behörden arbeiten. Es werde keine offizielle Veranstaltung – wegen des Versicherungsschutzes – geben. Interessant: Die Sperrzeiten wurden von Donnerstag bis Dienstag aufgehoben.

Die Zunft, wiederum, werde nicht gegen eine "wilde Fasnet" einschreiten. Zwar würden wilde Narrensprünge keinen Sinn machen, so die Diktion, aber gegen das Anziehen der Kleidle zum Umherziehen in der Stadt habe die Zunft grundsätzlich nichts einzuwenden.

Dann war es soweit. Der Schmotzige fast ein Tag wie jeder andere. Einige Schüler – Schulfastnachten gab es ebenfalls in diesem Jahr nicht – bemalten sich mit Friedenstauben und ähnlichen Symbolen. Abends kamen Menschen auf die Straßen. Konvikt und katholisches Gemeindehaus blieben jedoch geschlossen. Die üblichen Gaststätten wurden gut besucht. Im "Schädle" und gleichfalls anderswo zeigten sich die Aushäusigen freudig überrascht, als plötzlich eine Schmotzigengruppe auftauchte.

Während am Fasnetssonntag eine Schlitten-Party bei der Zunft in der Altstadt die größte Medienaufmerksamkeit bekam, konzentrierte sich das Interesse am Montagmorgen auf das Schwarze Tor. Eine Minderheit echter Narren war einfach nicht aufzuhalten beim Narrensprung ohne Segen der Zunft. Nachdem der Linienbus um 7.55 Uhr vor großem Publikum die Stadt ’nab fuhr, ließen Oberbürgermeister Michael Arnold, Ordnungsamtsleiter Heinz Kiene und Polizeioberrat Heinrich Parusel die Obere Hauptstraße sperren.

Statt der üblichen 3000 wurden zwar lediglich 150 Narren gezählt, doch diese Minderheit ließ sich nicht bremsen. Zaghaftere, die in den Häusereingängen erst einmal die Lage peilen wollten, trauten sich auf die Gass’. Etwa eineinhalb Stunden war wildes Narrentreiben; der Sprung führte bis zum Straßenkreuz und dann wieder zum Schwarzen Tor zurück. Aufsagen inklusive.

Derweil saßen "hohe Herren" der Zunft im Baurekittel im "Paradies", demonstrierten närrische Enthaltsamkeit – und Alo Schellhorn ließ später verlauten, dass er "angenehm enttäuscht" sei, dass nicht mehr Narren auf der Straße gewesen seien. Aufgefallen ist jedoch eine Larve, deren eine Hälfte schwarz war, um die doppelte Moral und die Einäugigkeit derer zu demonstrieren, die die Fasnet wegen der Golfkrise ausfallen lassen wollten.

Am Dienstag war es nicht minder zunftfrei. Weniger Reglement, weniger Veranstaltungscharakter. Die Fasnet ist halt ausgebrochen, schrieb Heinrich Maier im Schwarzwälder Boten. Das letzte Mal übrigens war 1991 "’s Ronny’s Schantle" an der frischen Luft. Das Original kam ins Stadtmuseum, seitdem ist eine Kopie an den "hohen Tagen" zu sehen.

Narrenrat Winfried Hecht hat es vor 25 Jahren imponiert, dass eine ganze Reihe trotzdem unterwegs war – und auch, wie die Narren es gemacht haben. An der Fasnet gehe es schließlich auch ein Stück weit um Sozialhygiene. Mit Blick auf das kommunale Miteinander. Wenn man sich ungeniert die "Wahrheit" an den Kopf werfe.

Für Reiner Hils war damals der Irakkrieg Anlass, den Kriegsdienst zu verweigern – nach 15 Monaten Wehrdienst und drei Wehrübungen. Heute würde er die Absage der Freiluftveranstaltungen, die er in der Vollversammlung der Narrenzunft erlebt hatte, nicht mehr so sehen. "Wir dürfen unser freies Leben nicht von Kriegstreibern, Terroristen und anderen Idioten versauen lassen. Aber wir müssen uns damit beschäftigen, warum es zu solchen Konflikten kommt, und was wir mit unserer Lebensweise damit zu tun haben. Da stehen die Rüstungsfirmen nicht gerade als Friedensbringer im Focus, und von denen gibt es im Landkreis Rottweil ja auch welche. Leider stehen wirtschaftlichen Interessen, meist vor den humanitären Grundsätzen."

Feste und Bräuche

Für Werner Mezger war die 1991er-Fasnet aus heutiger Sicht die kreativste aller Fastnachten im Südwesten. Und sie hatte ein mediales Nachspiel, das anhält. Wurde bis 1991 überwiegend negativ über diese Art des Brauchtums im Fernsehen, damals SDR und SWF, berichtet, machten diese Sendeanstalten auf Druck der Narrenverbände Konzessionen.

Das große Narrentreffen 1992 in Bad Cannstatt wurde – zur Probe – live übertragen und erhielt trotz eines Verrisses in der Stuttgarter Zeitung, wie sich Mezger erinnert, waschkörbeweise positive bis sehr positive Resonanz. In der Folge entstand die Redaktion Feste und Bräuche, heute ein stabiles Standbein im SWR. Sie ist ein Stück weit ein Identitätsmerkmal für das Ländle geworden, findet der Professor aus Rottweil.

Er lobt übrigens die Rottweiler Verhältnisse zwischen Stadtverwaltung und Narrenzunft als relativ kooperativ. In anderen, großen Orten werden die administrativen Bestimmungen immer rigider.

Konsequent in seiner Position bleibt hingegen Bernhard Pahlmann. Mit Blick auf 1991 teilt er auf Nachfrage mit: "Sehr bedauert habe ich die Absage der Fasnet 1991 im Zusammenhang mit dem Irakkrieg I. Nicht so sehr wegen einer ausgefallenen Fasnet. Das kann Rottweil schon ertragen. Mich störte die sich in der Absage andeutende Gleichschaltung mit dem imperialen Bruder USA. Meine Haltung hat sich in den 25 Jahren eher verfestigt. Im Advent 2015 bin ich nicht zum ersten Mal gegen Militäreinsätze – inzwischen ja auch der Bundeswehr – in Rottweil auf die Straße gegangen."

Der Bodenkrieg im Irak begann am 24. Februar, die Waffenstillstandsvereinbarungen griffen am 3. März. Waffen haben seitdem mitnichten in der Welt geschwiegen. Und die Fasnet 2016? ’s goaht dr’gega.