Der Rottweiler Bahnhof im Jahre 1917: Zu einem tödlichen Unfall kam es am 17. August, als ein 25-jähriger Arbeiter zwischen die Puffer eines Zuges kam und so schwere Verletzungen erlitt, dass er eine halbe Stunde später verschied. Vorlage: Stadtarchiv Rottweil Foto: Schwarzwälder-Bote

Vor 100 Jahren: Not ist überall / Verfüllung missfällt / 1152 und das Hoffen auf eine Weissagung

Als der Weltkrieg im August 1917 in sein viertes Jahr ging, belegte die Siegeszuversicht, 1914 und 1915 überreich vorhanden, einen hinteren Platz.

Rottweil. In den Veröffentlichungen einer Lokalzeitung, wie in Rottweil in der Schwarzwälder Bürgerzeitung, ist vermehrt von Mangel, Ersatz, Sammlungen und Schicksalsschlägen zu lesen. Dazwischen tauchen kleine Anekdoten auf, die sicher nicht nur heute zum Schmunzeln anregen und damals mithalfen, Ablenkung in den harten Alltag der Allermeisten zu bringen.  Not Sie ist zu spüren, bei Meldungen wie jene, die die Empfehlung abgeben, barfuß zu laufen. Das Leder sei knapp, veröffentlichen Stadtschultheiß Glükher am 26. Juli und die Reichbekleidungsstelle am 28. Juli. Appelliert wird an die "vaterländische Pflicht der Sparsamkeit". Sie gelte, in diesem Falle, für die schulpflichtige Jugend ("Abhärtung"), aber auch für Schüler höherer Lehranstalten ("keine falsche Scheu"). Es sei besser, barfuß im Sommer zu laufen, als im Winter mangelhaftes Schuhwerk zu tragen. Und: Erwachsene sollen sich ebenfalls angesprochen fühlen (oder Holzsandalen tragen).  Randnotiz Die bürgerlichen Kollegien in Schramberg empfehlen, am 7. September den Tag "50 Jahre Stadtrecht" in einfacher, aber würdiger Weise zu begehen.  Not Sie ist weiter zu spüren, wenn Vorratssammlungen (Obstkerne) angeregt werden. Wenn in Irslingen der Gemeinderat Beerensammeln für Ortsfremde in den Gemeindewaldungen bei Strafe verbietet (25. Juli). Wenn Frühdruschprämien zur Beschleunigung der Getreideablieferung vom Bundesrat festgelegt werden ("natürlich mahlfähiges Getreide"). Wenn die Eierablieferung Lücken aufweist und die Ortsvorsteher vom Oberamt ermutigt werden, nachzuprüfen, wer seiner Pflicht noch nicht nachgekommen sei (17. August). Wenn Lakritzwurzeln als Süßstoff in Zeiten der großen Knappheit an Zucker in Erinnerung gebracht werden (23. August).

Aber auch als am 7. September der Zweigverein Rottweil des württembergischen Vereins für Nesselanbau im Hotel Zink ins Leben gerufen wird. Ziel sei die Gewinnung und Verarbeitung der Nesselpflanze an Stelle der Baumwolle ("Die Bekleidungsfrage ist so brennend geworden wie die Ernährungsfrage"). Die Schuljugend solle wildwachsende Pflanzen sammeln.  Randnotiz Die Fußballgötter aus Rottweil vom FC "Germania" kehren am 12. August nach einem Wettspiel in Tuttlingen mit einem 3:2-Sieg zurück, obwohl sie lediglich mit neun Mann gegen die Elf des FC "Alemania" gespielt haben.   Große Not Ein Hagelunwetter – Hagel groß wie Taubeneier, vermerkt der Chronist – geht auf Rottweil, Dietingen und Teile von Zimmern Richtung Pulverfabrik am 20. August zwischen 14.30 und 15 Uhr nieder. Mit vernichtender Wirkung für Garten- und Feldgewächse, für Obst und Öhmd, für Kraut- und Salatköpfe. Übrigens: Die Wettervorhersage hatte in der Ausgabe vom Sonntag, 19. August, für den Sonntag und den Unglücksmontag "vorwiegend trockenes, warmes und auch heiteres Wetter" erwarten lassen (Ähnliche Prognosen können sogar 100 Jahren später vorkommen). Bereits am Dienstag, 31. Juli, erlebte Neufra gegen 17 Uhr Starkregen, dem eine Windhose folgte. Etliche Dächer wurden abgedeckt, Bäume mit "Obstsegen" schwer beschädigt.  Randnotiz Schlimmer geht’s immer. So beim Blick auf die Hungersnot 1817. Wie in einer Aufschrift bei der Einfahrt der 1817 erbauten bedeckten Neckarbrücke in der Altstadt vermerkt. Bis jetzt, schreibt anno 1917 ein Autor, musste noch wie damals kein Brot aus Sägemehl, Kleie und Erdäpfelschalen gebacken werden.  Eine Klage Heutzutage wird in Dietingen Gelände verfüllt, damals in Rottweil. Malerin Adelheid Scholl (SBZ-Ausgabe Nr. 189 vom 19. August) beklagt die Verfüllung des "Nägelinsgraben" ("Malerisch interessanter Teil Rottweils auf immer dahin"). Eine Brücke darüber wäre prächtig gewesen, findet sie. Ein Bauwerk wie die Hochbrücke oder das Viadukt. Und sie blickt in die Zukunft. Möge bald ein grüner Rasen die große Wüstenei zudecken. Und schnell wachsende Bäume. Rothenburg ob der Tauber solle allen Städtchen zum Vorbild dienen. Denn: Es kommen Zeiten, da man zu Städten alter Kultur und Romantik wallfahren werde wie zu heiligen Stätten.  Anmerkung Heilige Stätten haben sicherlich keine Hängebrücke.   Randnotiz Die Reichsbekleidungsstelle regt an, mit Rücksicht auf die allgemeine Volksstimmung auf besondere Trauerkleidung zu verzichten. Stattdessen wird ein schwarzer Flor um den Arm empfohlen. Schwarze Trauerkleidung sei ein Zeichen der Äußerlichkeit.  Unglück Gefallene gibt es unzählige im Weltkrieg. Da macht das Oberamt Rottweil keine Ausnahme. Unglücksfälle anderer Art passierten am 26. und am 28. August. Feuer brach am Sonntag in der Pulverfabrik im Neckartal aus, zwei Mädchen kamen ums Leben, mehrere Arbeiterinnen erlitten schwere Verletzungen, eine erlag ihnen, wie in einer Todesanzeige am 29. August zu lesen ist. Bei einem Brand am Dienstag trugen fünf Arbeiter Verletzungen davon, Zimmermann Muschal aus Wilflingen, Vater von fünf Kindern, starb.  Randnotiz Das Lichtspieltheater kündigt für den 2. September den Film "Es werde Licht" an. Laut Hinweis ein Kulturfilm, vor Gefahren der Geschlechtskrankheiten (Syphilis) warnend.  Diebstahl Bei einem Landwirt in der Schramberger Straße wurde am 29. August eingebrochen. In die Küche. Es fehlen Brot, Eier, Butter, Speck und sonstige essbare Dinge.  Randnotiz Vor dem Verzehr von Rhabarberspinat wird gewarnt. "Vermutlich" wegen Oxalsäure. Wenn Rhabarberblätter zu Gemüse verkocht werden, drohen "ernste Schädigungen". Sogar von Todesfällen ist die Rede.  Diebstahl Felddiebstähle nehmen überhand. In Frittlingen wird am Montag, 30. Juli, ein Kartoffeldieb aus Rottweil von Landjäger Fensterle dingfest gemacht. Der Mundraubräuber musste mit leerem Rucksack abziehen. Strafe folgt.   Randnotiz Eine Raupenplage gilt es zu bekämpfen. Vor allem Weißkraut sei in Gefahr. Im "vaterländischen Interesse" sollten Schulklassen mobilisiert werden, schreibt das Oberamt.   Not Wecken, Brezeln, Bonbons, Ostereier, Gummiball und Goldmünze – all diese seien mittlerweile fremdgewordene Begriffe für viele sechs- und siebenjährige Knaben und Mädchen. So wird am 2. September konstatiert. Begriffe, die vor dem Krieg jedem Kind geläufig waren.  Weissagung Das Kriegsende ist nahe. Und zwar am 29. September, am Tag des Heiligen Michaelis. Prophezeit von einer Zigeunerin. Mitnichten also eine "Windbeutelei". Der Krieg habe am vierten Tage des achten Monats des Jahres 1914 begonnen. Und vier mal acht mal eins mal neun mal eins mal vier mache 1152. Wer den Anfang kenne, kenne das Ende. Der 1152. Tag sei besagter 29. September. Und: Michaelis sei der Name des Kanzlers, der den Frieden bringe. Zwar war Georg Michaelis vom 14. Juli bis zum 31. Oktober Reichskanzler, doch am 29. September 1917 brach kein Friede aus.