In eilig aufgestellten Betten verbrachten die Flüchtlinge in der ehemaligen Fabrikhalle die Nacht. Foto: Hopp

Mehrere Neuankömmlinge verlassen Ergenzinger Notunterkunft auf eigene Faust. Rettungskräfte hoffen auf Sachspenden.

Rottenburg-Ergenzingen - Die Nachricht schlug in Ergenzingen ein wie eine Bombe: Das Dräxlmaier-Areal wird über Nacht zu einer Notunterkunft für 550 Flüchtlinge. Doch wer am Mittwoch im und um das verlassene Firmengebäude das Chaos erwartete, der wurde eines Besseren belehrt.

Durchatmen ist am Donnerstagnachmittag bei Daniel Huber angesagt. Von 16 bis 23 Uhr war der DRK-Einsatzleiter am Dienstag auf dem Dräxlmaier-Areal im Einsatz, gestern Morgen ging es um 7 Uhr weiter. Nach zwei XXL-Schichten gönnte sich Huber dann eine kleine Pause. "Das ist eine absolute Ausnahmesituation, aber den Menschen muss man helfen", betont der Einsatzleiter, der gerade tief betroffen aus der sporadisch eingerichteten Kleiderkammer kommt: "Viele haben ja nur noch das, was sie am Körper tragen."

Wird Ergenzingen dauerhaft zu einer Außenstelle?

Auf den ersten Blick läuft in der aus dem Boden gestampften Notunterkunft bereits alles in geordneten Bahnen. Die Dienstleistungsorganisation der Universität Tübingen versorgt die 550 Flüchtlinge mit Kartoffelsuppe, dutzende Sprudelkisten sichern die Getränke-Versorgung, Kinder wühlen in Spielzeugkisten. Zwischen den blauen Feldbetten wird sogar ein kleines Volleyball-Match ausgetragen.

Doch hinter den Kulissen gibt es noch viele Unklarheiten. Dazu gehört vor allem die Frage: Wird Ergenzingen dauerhaft zu einer Außenstelle der völlig überlasteten Landeserstaufnahmeeinrichtung in Karlsruhe? "Dazu kann ich noch nichts sagen", meint Steffen Fink, Pressesprecher des zuständigen Regierungspräsidiums Tübingen. Vorgesehen sei, die Flüchtlinge hier erst einmal medizinisch zu versorgen und sie zu registrieren. Die dafür notwendige EDV sei aber noch nicht eingetroffen.

Klar ist lediglich, wieso ausgerechnet Ergenzingen nun zur größten Flüchtlingsunterkunft im Landkreis Tübingen geworden ist: Laut Fink habe der Eigentümer das verlassene Firmengelände schon vor längerer Zeit als Flüchtlingsunterkunft angeboten. Nachdem die Situation sowohl in den Landeserstaufnahmeeinrichtungen als auch an den bayerischen Bahnhöfen immer unübersichtlichere Ausmaße annimmt, habe man reagieren müssen – und nehmen, was man kriegt. Fink: "Die guten Gebäude liegen nun mal nicht auf der Straße. Und die Kapazitäten im Regierungsbezirk Tübingen sind am Anschlag."

Genaue Zahl der Flüchtlinge schwankt

Rottenburgs Oberbürgermeister Stephan Neher (CDU) hätte sich zwar etwas mehr Vorlaufzeit gewünscht, er äußerte jedoch in Anbetracht der überfüllten bayerischen Bahnhöfe – von denen der Großteil der in Ergenzingen angekommenen Flüchtlinge stammt – Verständnis: "Wir alle kennen die Bilder aus München und anderen Städte. Diese Städte dürfen wir nicht alleine lassen. Wir helfen gerne." Dass eine solch große Zahl an Flüchtlingen – immerhin mehr als zehn Prozent der Ergenzinger Einwohnerzahl – zu Konflikten führen wird, glaubt Neher nicht: "Ich gehe davon aus, dass man, wie in der Vergangenheit auch, offen reagiert. Ich bin überzeugt, dass alle mithelfen. In der Bischofsstadt mit ihrem Stadtpatron Sankt Martin sind wir zur Hilfe verpflichtet."

Die genaue Zahl der in Ergenzingen gestrandeten Personen schwankt derweil laufend. Laut DRK-Pressesprecher Stephan Gokeler kamen in der Nacht zum Mittwoch 447 Personen in Ergenzingen an. Weitere 100 waren es gestern im Lauf des Tages. Allerdings sagt Gokeler: "Ein Teil davon ist schon nicht mehr in Ergenzingen". Mehrere Personen hätten sich schon auf eigene Faust in Richtung Autobahn auf den Weg gemacht. "Wohl um sich auf den Weg zu Verwandten oder Bekannten in anderen Teilen Deutschlands zu machen", mutmaßt Gokeler. Man habe keine Möglichkeiten, diese Personen aufzuhalten.

Etwa drei Viertel der Neuankömmlinge sind Männer. Vier Personen mussten in eine Klinik gebracht werden, da unter anderem Verdacht auf Lungenentzündung bestand. Gokeler: "Viele weitere Personen waren erkältet oder in einem angegriffenen Zustand." In Ergenzingen angekommen sind auch 16 Babys, die noch kein Jahr alt sind. Babygläschen würden dabei von den Eltern kaum angenommen, vielmehr wünschten sie Brei für die Babys.

Das DRK hatte nahezu alle verfügbaren Kräfte aus dem Kreis Tübingen (117 Personen) zusammen gezogen. Später kam auch noch Unterstützung von den Kreisverbänden Freudenstadt, Zollernalb und Böblingen sowie der Johanniter-Unfallhilfe hinzu.

Angewiesen sind die Rettungskräfte weiterhin auf Sachspenden aus der Bevölkerung. Wer etwas spenden möchte, kann sich an das Rathaus in Rottenburg wenden.

Kommentar: In Aufregung

Von Martin Dold

Die Welt in Ergenzingen ist eine andere als noch vor zwei Tagen. Die Ankunft von 550 Flüchtlingen aus fremden Kulturkreisen hat den ansonsten eher beschaulichen Ort im Gäu in helle Aufregung versetzt. Doch Wehklagen hilft nun nicht weiter, die Fakten sind binnen wenigen Stunden bereits geschaffen worden – und sie werden fürs Erste bleiben, so viel ist sicher. Vielmehr ist es ein ermutigendes Zeichen, dass die Einsatzkräfte von DRK, THW, Feuerwehr und Johanniter derart schnell alles Notwendige in die Wege leiteten – von der Aufstellung der Betten über die Kleiderausgabe bis zur Essensversorgung. Nun bleibt zu hoffen, dass sich alle Seiten – Bevölkerung, Helfer und Flüchtlinge – miteinander arrangieren und sich gegenseitig unterstützen. Denn für das Management der Flüchtlingsproblematik vonseiten der großen Politik können die Beteiligten vor Ort nichts.