Mittellaterliches gibt es auf der Burgruine zu erzählen: Cornelia Hildebrandt-Büchler ist voll dabei. Foto: Büchler

Themenführungen werden immer beliebter. Selbst eine Luther-Tour gibt es. Mehr als nur trockene Geschichte.

Nagold - Stadtführungen haben Konjunktur in Nagold. Nicht immer geht es nur um die Stadt. Nicht trockene Geschichte ist gefragt – sondern Geschichten.

Schlendert man dieser Tage durch Nagold, stößt man gefühlt an jeder zweiten Ecke auf eine kleine Menschenmenge. Meist sind es ein oder zwei Dutzend Männer und Frauen, die vor dem Hotel Post oder der Schmidschen Apotheke im Halbkreis umeinanderstehen. Die älteren Semester sind deutlich in der Überzahl, die Männer in karierten Hemden, viele tragen einen Rucksack. Aus ihrer Mitte hallt eine Stimme, jemand hält einen Vortrag, zeigt mit dem Zeigefinger auf die hübschen Fachwerkhäuser – die Herrschaften im Halbkreis recken die Hälse und lauschen andächtig. Viele nicken zustimmend.

"Stadtführungen haben Konjunktur in Nagold", sagt Theresa Brutscher nicht ohne Stolz. Allein im vergangenen Jahr habe es 56 Gruppenführungen gegeben, im laufenden Jahr seien bisher bereits über 40 Führungen reserviert. "Wir sind guten Mutes, dass wir die Marke aus dem letzten Jahr klar kippen werden", prophezeit die zuständige Expertin aus dem Rathaus. Immerhin rund 900 Menschen hätten von Januar bis Mai an Führungen teilgenommen.

"Es geht auch um Unterhaltung"

Das Angebot ist vielfältig – nicht immer geht es nur um Stadtgeschichte und auch historische Fakten stehen nicht unbedingt im Vordergrund. "Es geht auch um Unterhaltung, es geht auch um Geschichten erzählen." Man sei da durchaus erfinderisch.

Es ist Sonntagnachmittag, nicht zu heiß und nicht zu kalt, ideales Wetter für eine Stadtführung. "Auf den Spuren starker Frauen in Nagold", heißt der Rundgang, zu dem Cornelia Hildebrandt-Büchler einlädt. Natürlich beginnt der Spaziergang durch die Frauengeschichte am Urschelbrunnen – wo sonst?. Zwar ist das Wasserspiel bei Lichte gesehen nicht wirklich etwas Besonderes – weder historisch bedeutsam noch ästhetisch eine Augenweide. Aber es steht nun mal im Herzen der Stadt, gleich neben dem Zentrum der Macht, dem Rathaus. Zudem handelt es sich um Nagolds wohl berühmteste Frauenfigur.

Cornelia Hildebrandt-Büchler ist keine Nagolderin, sie trägt einen feschen roten Seidenschal um den Hals, kommt aus Pirmasens und spricht nicht Schwäbisch. Sie lebt seit 30 Jahren in Nagold, macht schon seit Jahren Stadtführungen und kennt ihr Geschäft. Die Stadtführung dauert gut eineinhalb Stunden, sie kostet drei Euro.

Um das Interesse der Teilnehmer gleich zu Beginn auf Trab zu bringen, greift die ehemalige Lehrerin zu einem kleinen pädagogischen Kniff. Schließlich waren Burgfräuleins, die Gutes getan und den Armen geholfen haben, im Mittelalter nun wirklich keine Seltenheit. Was war also das Besondere an der Adelsfrau aus Nagold? "Ist sie schön?", fragt Cornelia Hildebrandt-Büchler lächelnd in die sichtlich überraschte Runde – und versucht durch diesen kleinen Trick sozusagen die Spur auf das "Alleinstellungsmarkmal" der Nagolder Urschel zu legen – nämlich deren angeblich enorme Hässlichkeit. Selbst ihre Eltern, berichtet die Ex-Lehrerin, hätten ihre Tochter als schlichtweg unansehnlich empfunden.

Konkurrenz in anderen Städten ist hart

Die Reaktion ist zögerlich, die übergroße Mehrheit der Teilnehmer sind Frauen in der zweiten Lebenshälfte, die sich möglicherweise aus weiblicher Solidarität schwertun, die Geschlechtsgenossin aus dem Mittelalter rundheraus der Hässlichkeit zu bezichtigen. Doch schließlich einigen sie sich darauf, dass man das Ebenbild des einstigen Burgfräuleins kaum als sonderlich anziehend bezeichnen könne. "Moral von der Geschichte: Es kommt eben auf die inneren Werte an", verkündet darauf die sympathische Pfälzerin. Man weiß nicht so recht, ob sie das ernst meint – oder ob leise Ironie mitschwingt. Dabei ist es doch gerade das angeblich heftig missratene Äußere, das die mittelalterliche Urschel zur Kultfigur auf dem Brunnen werden ließ. Hildebrandt-Büchler fügt hinzu, dass es sich bei der "wüschten Urschel" lediglich um eine Legende handelt – streng historisch betrachtet also wenig belastbar. Auf Deutsch: Nichts genaues weiß man nicht.

Nagold hat es nicht eben leicht in Sachen Stadtführung, räumt Theresa Brutscher offen ein. Die Konkurrenz ist beinhart, Calw hat Hermann Hesse, Tübingen Hölderlin und das Stift, Heidelberg die Universität und das Schloss. "Ein solches Highlight, ein solches Alleinstellungsmerkmal haben wir nicht." Wenn viele Fremde nördlich und südlich des Mains, die über 50, 60 Jahre alt sind, den Namen Nagold hören, denken sie an den Bundeswehrskandal Anfang der 60er Jahre – an den "Schleifer von Nagold".

Die zweite Station in der Führung der Pfälzerin ist die Wachsende Kirche im Stadtpark. Hier ist es schattig und angenehm kühl, das Thema sind jetzt die Kelten – und um zum Thema Frauen zu führen, schlägt Hildebrandt-Büchler einen geschickten rhetorischen Bogen. Vor 2500 Jahren hätten die Kelten hier gesiedelt, in einem Grab sei ein Keltenfürst beerdigt. "Aber es gab bei den Kelten auch Fürstinnen", setzt sie die Rede fort. "Und wenn es Keltenfürstinnen gab, dann lässt sich vermuten, dass es mit der Gleichbehandlung der Geschlechter gar nicht so schlecht ausgesehen hat." So ist sie wieder beim Thema Frauen angekommen, ein bisschen von hinten durchs Auge zwar, aber die teilnehmenden Damen nicken. Dass Historiker die Schlussfolgerungen eher als gewagt empfinden würden, stört an diesem Nachmittag wenig.

Auch Theresa Brutscher aus dem Rathaus stört der mitunter eher lockere Umgang mit der Historie nicht wirklich. "Es geht bei dieser Art Führungen nicht nur um trockene Fakten", erklärt sie. "Es geht um ›Story telling‹", sagt sie auf Englisch – um Geschichten erzählen also, spannende und packende Geschichten über Menschen, historischen Figuren oder Legenden, bei denen es mit der historischen Wahrheit ja bekanntlich ohnehin so eine Sache ist.

"Geschlossene Führungen" sind noch beliebter

"Das ist zu einem gewissen Grad auch eine Gratwanderung", erklärt die Expertin Brutscher. Für Cornelia Hildebrandt-Büchler und Nagold, der Stadt mit dem geringen "Alleinstellungsmerkmal", bedeutet dies eben auch: Aus wenig viel machen. "Für die Teilnehmer steht das emotionale Erlebnis im Vordergrund", so Brutscher. Nicht die trockenen Fakten. Angefangen habe der Boom der Stadtführungen mit der Landesgartenschau, erzählt die Expertin aus dem Rathaus weiter. 20 Führer seien damals eigens ausgebildet worden, hätten Schulungen erhalten, durchaus auf hohem Niveau.

Es gibt, von April bis Oktober, öffentliche Führungen, an denen jeder teilnehmen kann. Den großen Boom aber erlebten die "geschlossenen Führungen", also Events, die eigens gebucht werden können. Firmen, die Besucher erhalten, tun dies etwa gerne, zum Beispiel die Firma Häfele, wenn diese ihren Geschäftsleuten und Kunden aus aller Welt etwas Besonderes und Heimatliches bieten wolle.

"Die Leute fragen ausdrücklich nach Anekdoten und Geschichten. ›Bloß nicht zuviel Zahlen‹", laute oftmals der Tenor der Anfragen, sagt Brutscher. Damit sich die ausländischen Gäste nicht verloren fühlen, gebe es auch Führer, die Englisch und Französisch sprechen. Die Führungen kosten meist 60 Euro pro Gruppe.

Das Besondere: Neben den klassischen historischen Stadtführungen, die schlicht gesprochen vom Hotel Post bis zur Burg Hohennagold den Bogen durch die Geschichte schlagen, gibt es eben auch "Themenführungen", einen "Zeller-Mörike-Spaziergang" etwa, einen Rundgang auf dem Historischen Friedhof.

Pünktlich zum 500. Jubiläum hat man gar eine Luther-Führung aufgelegt – was angesichts der Nagold-Ferne des Mannes aus Eisleben ein klein wenig verwegen erscheint. "Luther war niemals in Nagold gewesen", räumt denn auch der pensionierte Nagolder Stadtpfarrer Helmut Luckert ein. Was den Schwaben Luckert allerdings nicht hindert, eine Luther-Führung in Nagold zu präsentieren.

Luckert ist ein schmaler, grauhaariger Mann, er ist es auch, der sich die Sache mit der Luther-Führung ausgedacht hat. Und da es nun einmal kein Haus und kein Hotel gibt, in dem Luther übernachtet, keine Kirche, in der der Kirchenspalter gepredigt hätte, bedient sich der Schwabe Luckert eines Kunstgriffs: Statt auf die Spuren Luthers, führt er seine "Schäfchen" auf die Spuren legendärer Luther-Worte, die es bekanntlich in Hülle und Fülle gibt. "Es gibt fast nichts, was sich nicht mit einem Luther-Zitat veranschaulichen lässt", verspricht der Ex-Pfarrer. Zum Beispiel Luther zum Thema Gastronomie und Wahrheit: "Trink, was klar ist. Iss, was gar ist. Red, was wahr ist" – ein Zitat, das sich sowohl zum Vortrag vor Nagolds Wirtschaften, als auch vor dem Rathaus eignet, wie Luckert süffisant andeutet. "Sozusagen Bibelstunde und Stadtgeschichte in einem", nennt er das.

Mittlerweile sind Cornelia Hildebrandt-Büchler und ihre "Follower" im Mittelalter angekommen. Es geht um keinen geringeren als Karl den Großen und seine Frau Hildegard. Letzere war eine Schwester des Nagoldgaugrafen Gerold – und wurde zur dritten Ehefrau des großen Herrschers. "Hat sie politischen Einfluss genommen?", fragt Hildebrandt etwas zögerlich. So genau wisse man das leider nicht, "man kann abschließend kein Urteil fällen". Die nächste große Frau mit Verbindungen zu Nagold ist Gertrud von Hohenberg, die Rudolf von Habsburg heiratete. "Sie war in vieler Hinsicht bemerkenswert, sie konnte lesen und schreiben, sie konnte sogar jagen, was damals im 13. Jahrhundert sehr ungewöhnlich für eine Frau war." Eine echte Powerfrau, könnte man sagen. Doch das eigentlich Besondere: Gertrud habe immensen politischen Einfluss ausgeübt. Während ihr Mann auf eher kriegerischem Wege den Grundstein für das riesige Habsburger Reich legte, habe die clevere Gertrud "den diplomatischen Part übernommen".

Zum Abschluss schlägt die Stadtführerin nochmals einen ganz großen Bogen, diesmal geht es um nichts weniger als die "Stellung der Frau im Mittelalter". Und überhaupt um das Thema Christentum und die Frauen. Man spürt, dass Cornelia Hildebrandt-Büchler jetzt richtig in Fahrt kommt. "Eigentlich ging es schon bei der Genesis los", empört sie sich. "Schon in der Schöpfungsgeschichte spielt die Frau ein Mauerblümchendasein." Gehilfin des Mannes, heißt es da, aus der Rippe des Mannes geschnitten – die Frau als Wesen zweiter Klasse, meint Hildebrandt-Büchler. Auch sie präsentiert zwei Luther-Zitate, die es in sich haben. "Das Weib soll schweigen, wenn der Mann redet", heißt das eine. "Unkraut wächst schneller, also wachsen Mädchen schneller", heißt das andere. Ein Raunen geht durch die weibliche Zuhörerschar. Das hat zwar ganz und gar nichts mit der Stadtgeschichte zu tun – aber das ist an diesem sonnigen Sonntagnachmittag im Nagolder Stadtpark ziemlich egal. Wie sagt Theresa Brutscher zu den Stadtführungen, ihrem geheimen Reiz und ihrer Wirkung? Es gehe nicht um tote Zahlen und trockene Fakten. Darin bestehe nicht die Kunst einer Stadtführung. "Letztlich geht es bei einer Stadtführung um ein emotionales Erlebnis."

Stadtführungen können auch individuell gebucht werden: www.nagold.de/stadtfuehrungen

Die nächsten festen Termine im Juli (Treffpunkt 15 Uhr am Urschelbrunnen): 2. Juli: Historische Altstadtführung; 9. Juli: Historische Altstadtführung; 16. Juli: Frauenwege; 23. Juli: Historische Altstadtführung; 30. Juli: Historische Altstadtführung.