Margot Käßmann, Ex-EKD-Vorsitzende und offizielle Botschafterin des Reformationsjahres trat in der komplett vollen Nagolder Stadthalle auf. Foto: Fritsch

Karten für Vortrag in Nagolder Stadthalle nach 15 Minuten ausverkauft. Plädoyer für ein offensives Christentum.

Nagold - Das war ein Auftritt – ein wenig so wie bei einem Rock-Star: Margot Käßmann, Ex-EKD-Vorsitzende und offizielle Botschafterin des Reformationsjahres, vor restlos "ausverkauftem" Haus in der Nagolder Stadthalle. Da hatte die Volksbank HNR wohl einen Nerv ihrer Mitglieder getroffen.

Titel von Käßmanns knapp einstündigem Referat: "Was wirklich zählt – christliche Werte in unserer Gesellschaft". Denselben Vortrag hatte Käßmann Ende 2015 vor ähnlich großer Kulisse zwar bereits einmal beim Wirtschaftsforum der Volks- und Raiffeisenbanken im Kreis Calw im Congress Centrum Wart gehalten. Mit ähnlich großen Erfolg und genauso großer Resonanz. Aber das hier in der Stadthalle war offenbar noch einmal ein komplett anderes, neues Publikum – außer vielleicht, was die Offiziellen der Volksbank Herrenberg-Nagold-Rottenburg (Voba HNR) betrifft.

Aber – eben wie in der Rockmusik: gute Songs und gute Reden – beziehungsweise wie in diesem Fall: Predigten – hört man gerne einmal wieder. Und die Pointen, Thesen, Forderungen und geistreichen Bonmots der Rhetorik-Preisträgerin und "moralischen Instanz" Käßmann haben ja nichts von ihrer Aktualität verloren.

Gegenentwurf zum um sich greifenden Zeitgeist

Um es sich einmal auf der Zunge zergehen zu lassen: Die rund 800 zur Verfügung stehenden Karten für Käßmanns Auftritt beim Mitgliederforum der Voba waren in weniger als 15 Minuten ausverkauft. Absolut rekordverdächtig.

Es hätten locker das Doppelte und Dreifache an Karten abgesetzt werden können – wobei es sich ja um eine geschlossene, nur für Genossenschafts-Mitglieder der Volksbank offene Veranstaltung handelte. Aber von diesen Mitgliedern gibt es aktuell eben rund 55 000, wie Helmut Gottschalk, Vorstand der Voba HNR, in seiner Begrüßung erläuterte. Um dann auch die Gelegenheit zu nutzen, ein paar Fakten zur aktuellen Situation seiner Bank an die Mitglieder zu bringen – quasi als Vorprogramm des eigentlichen Stars des Abends.

Man blicke auf ein wieder erfolgreiches Geschäftsjahr 2016 zurück, das trotz eines schwierigen Marktumfelds mit Niedrigst- und Nullzinsen mit einem "ordentlichen Ergebnis" habe abgeschlossen werden können – "wenn auch nicht ganz so positiv wie in den Vorjahren", so Gottschalk. Aber die Dividende von drei Prozent auf die Mitgliederanteile sei sicher. Zum 1. Februar aber kündigte Gottschalk "größere Veränderungen" an verschiedenen Standorten der Voba HNR an, wenn dort der Schalterbetrieb eingestellt würde und durch Automaten-Angebote ersetzt werde – Zeichen des massiven Strukturwandels in der deutschen Bankenlandschaft, der sich auch die Genossenschaftsbanken stellen müssten. Die Voba HNR wolle diesen Schritt aber ohne betriebsbedingte Kündigungen von Mitarbeitern absolvieren, die frei werdenden Kräfte in neuen Geschäftsbereichen einsetzen.

Auch das wohl ein Zeichen von Ethik und Werten – gerade für einen Wirtschaftsbetrieb sehr wichtig. Und das nun war ja das eigentliche Thema der von ihrem Nagolder Publikum schon auch frenetisch gefeierten Referentin Margot Käßmann. Launig, geistreich, amüsant und oft auch sehr persönlich trug sie ihr engagiertes Plädoyer für ein offensives, im Alltag gelebtes Christsein vor – als nach wie vor aktuellen Gegenentwurf zu einem um sich greifenden Zeitgeist, der "mit großem Unbehagen" Entwicklungen wie die Terroranschläge von Nizza oder Berlin wahrnimmt, den Krieg in der Ukraine, die vielen Flüchtlinge, die zu uns kommen; dazu Regierungslenker wie die Herren Orban in Ungarn oder Trump in den USA. "Man fragt sich: Ist Demokratie da noch zukunftsfähig?"

Für Käßmann, die evangelische Theologin und Publizistin, ist klar: Ohne gemeinsame, "höhere" Werte, eine gemeinsame Ethik, die als Regelwerk das Zusammenleben der Menschen erst ermöglicht, gehe es eben auch in modernen Gesellschaften nicht. Um selbstkritisch zu ergänzen: "Wir Christen haben aber auch erst in Jahrhunderten lernen müssen, dass unsere Ethik, unsere Regeln und Gebote in diesem Zusammenhang nur ein Angebot an die Menschen und Gesellschaften sein können." Nichts, was man einem mit Gewalt "einbläuen" könne.

Warum sind die Gottesdienste so traurig?

Eine Botschaft, die in Nagold – in den Medien gelegentlich ja als "die Herzkammer des (christlichen) Pietismus" bezeichnet – auf mehr als fruchtbaren Boden fiel. Wobei der "Zungenschlag" des Pietismus sich scheinbar auch hier zu verändern beginnt. Frage aus dem Publikum an die Referentin nach Ende von deren Vortrag: "Warum sind unsere Gottesdienste immer so traurig?" Eine Frage, mit der Frau Käßmann offensichtlich nicht gerechnet hatte. Aber – das verstehe sie eigentlich auch nicht. "Wir glauben an einen Auferstandenen, nicht an einen Toten." Also dürften die Gemeindemitglieder in ihren Gemeinden schon gerne aufstehen und mehr Fröhlichkeit einfordern; und dann auch leben. "Gottesdienst soll zwar kein Jux sein", und eine Spaßgesellschaft verliere auch schnell ihre Tiefe, "aber echte Fröhlichkeit wäre auch mir sehr wichtig."

Womit Margot Käßmann auch hier in der Nagolder Stadthalle von ihrem für sie wohl sehr eindrucksvollen Besuch zuvor in der Nagolder Stadt- und Vesperkirche berichtete: "Ich bin im Moment so etwas wie eine Wanderpredigerin. Und es berührt mich sehr, was hier bei Ihnen in der Vesperkirche, was in so vielen Gemeinden an positiven Dingen passiert." Das sei ermutigend, müsse aber noch mehr und offensiv ins Bewusstsein der Öffentlichkeit geführt werden. Denn schließlich, so hatte Käßmann zuvor in ihrem Vortrag vorgerechnet: 700 000 gehen in Deutschland jedes Wochenende ins Fußballstadion, aber über fünf Millionen in die Kirchen. "Die öffentliche Berichterstattung darüber ist aber disproportional anders." Vielleicht könne sich das ja auch mal ändern.