Monika Wehrsteins größtes Ziel ist ein stationäres Hospiz für diejenigen, die sich aus dieser Welt verabschieden. Foto: Kunert

Monika Wehrstein ist das Gesicht der Hospiz-Bewegung. Dramatische eigene Erlebnisse führten sie auf diesen Weg.

Nagold - Monika Wehrstein (62) ist heute das "Gesicht" der ambulanten Hospiz-Gruppe in Nagold. Sie ist deren Leiterin. Deren Botschafterin an so vielen Fronten. Ihr größtes Ziel und größter Wunsch: Ein stationäres Hospiz als Wohlfühl-Hort für alle jene, die sich aus dieser Welt und diesem Leben zu verabschieden haben.

Dafür kämpft Moni Wehrstein jeden Tag. Mit sehr, sehr viel Engagement. Und noch mehr Herzblut. Und es ist klar: Die Quelle dieser unglaublichen Motivation muss sehr tief in ihrem eigenen Erleben brennen. Kein Mensch entwickelt eine solche prägende, beeindruckende Leidenschaft ohne dem, was diesen Begriff – dieses Wort "Leidenschaft" – vor allem ausmacht: Leiden.

Moni Wehrstein lehnt sich in ihrem Sessel an der schmucken Kaffeetafel in ihrem frisch renovierten Wohnzimmer zurück. Ihr Blick geht halb nach oben, Richtung Zimmerdecke. Aber auch weit darüber hinaus. Ins Endlose. Und dann beginnt sie zu erzählen.

Da war diese Frau. Hochbetagt. Vor Monis geistigem Auge entwickelt sich die Geschichte schneller, als sie sie erzählen kann. Und man spürt ihre Augen feucht werden. Sie war auf der Flucht, diese Frau. Mitten im Zweiten Weltkrieg. Allein. Drei kleine Kinder an der Hand. Mit dem vierten hochschwanger. Der Mann weit weg als Soldat in diesem schrecklichen Krieg. Mit niemanden hat diese Frau in ihrem Leben je über das Folgende reden können, weder mit ihren Kindern, noch mit einer guten Freundin. Oder gar einem Seelsorger. "Ich höre viele Lebensbeichten, mehr als je ein Pfarrer", sagt Moni Wehrstein. Die Frau gebar das Kind... in eine Jauchegrube. Weil sie sicher gewesen sei, mit drei kleinen Kindern und dem Säugling die Flucht nicht zu schaffen.

Es ist totenstill für einen Augenblick in diesem heimeligen Wohnzimmer in Nagold-Gündrigen. Um das ausgesprochene Unaussprechliche verarbeiten zu können. Die Verzweiflung dieser Frau! Wer mag sie ermessen? Und das folgende Leben mit dieser Gewissheit. Bis zu diesem Kampf am Lebensende, wo die alte Frau, die die Mutter von einst jetzt war, wegen dieser Tat einfach nicht loslassen konnte. "Ich besorgte eine Puppe. Ein Baby. Und mit der alten Dame taufte ich diese Puppe, damit sie dieses Erleben endlich verarbeiten konnte." Und das kleine Ritual half, damit die alte Frau endlich ihren Frieden fand. Und die Puppe – als Erinnerung für das verlorene Baby – wurde mit der alten Dame im Sarg beerdigt. "Die Familie ahnt wohl bis heute von dieser Geschichte nichts", sagt Monika Wehrstein.

Und dann, nach einer Pause, in der sie – das ist offensichtlich – mit sich selber ringen muss, erzählt sie von ihren eigenen "verlorenen Babys". Die Fehlgeburten, um die auch sie nie trauern durfte. Drei Kinder hat Monika Wehrstein heute. Sechs Enkel. Aber drei ihrer Kinder haben das Licht der Welt nie erblicken dürfen. Und sie selbst durfte um diese Kinder, die sie doch unterm Herzen getragen hatte, nicht trauern. Die Gesellschaft – unsere Gesellschaft – wollte "so etwas" nur verdrängt wissen. Verleugnet. Nur nicht dran rühren. Ein Tabu. "Es ist gut, dass unsere Gesellschaft heute lernt, solchen Müttern wie mir ihre Trauer zu erlauben. Die Trauer um ihre ungeborenen Kinder." Zum Beispiel mit der Möglichkeit, auch diese Kinder, die eigentlich weder Namen noch Taufe erfahren haben, zu beerdigen. Damit die Trauerarbeit der Überlebenden, nicht nur der Mütter, geschehen könne. "Wir haben so unendlich viel verdrängt. Wir alle."

Und dann erzählt Moni Wehrstein von ihrem Schlüsselerlebnis, das sie sehr viel später zur Hospizarbeit führen sollte. Sieben Jahre war sie alt, als ihre eigene Mutter plötzlich verstarb. Acht Tage vor Heiligabend. Für einen Moment wird Moni Wehrstein zu diesem siebenjährigen Mädchen von einst. Das spürt, dass es der geliebten Mama irgendwie immer schlechter geht. Das kleine Mädchen kuschelt mit der geliebten Mutter, um es zu trösten. Weiß doch nicht, was vor sich geht. Trocknet die Tränen der Mutter ab, die diese weint. Vor Schmerz? Vor Gewissheit? Wer mag das entscheiden. Und dann stirbt die Mutter in den Ärmchen ihrer kleinen Tochter. Stellvertretend für so viele, die später – sehr viel später, als die kleine Moni von einst endlich ihre Bestimmung in der Hospizarbeit finden sollte – noch folgen sollten.

Doch für die kleine Moni begann damals mit dem so unendlich bewegenden Tod der Mutter der blanke Horror. Eine herbeigeeilte Ordensschwester schickte das kleine, vom Erlebten komplett verwirrte Mädchen hinaus auf die Straße. Alle schwiegen. Keiner redete mit dem Mädchen. Erklärte ihm, was vor sich ging. "Nie wieder hat jemand mit mir darüber gesprochen." Alles wurde einfach verdrängt. Das Erleben wurde schließlich gar zur klassischen Tragödie, als eine Stiefmutter die Stelle der verstorbenen leiblichen Mutter ersetzen wollte. "Es war für mich die ultimativ böse Stiefmutter." Erst echtes, hartes, tiefes Leiden weckt – im allerbesten Fall – solche tiefen, echten Leidenschaften wie Monika Wehrstein sie heute lebt.

Während ihrer späteren Hospiz-Ausbildung, erzählt Moni Wehrstein nach einigen Momenten der totalen Stille an dieser Kaffeetafel, "konnte ich meine eigene Trauerarbeit um meine Mutter endlich beerdigen". Kein leichter Kampf. Kein leichter Weg. "Ich habe geheult. Ich habe geschrien, wie ich noch nie in meinen Leben geschrien habe." Alles musste raus. Alles. Wirklich alles. "Dann habe ich alles aufgeschrieben. Und das Aufgeschriebene verbrannt." Ein simples Ritual. Das doch die vom real erlebten Horror "verknoteten" Synapsen in der eigene Erinnerung eine neue, "heilere" Richtung zu geben vermochte. Und man merkt, wie sich auch die eigene Tränen endlich eine Bahn brechen wollen.

Musste dafür all dieser Schmerz, dieses Leiden dieser beeindruckenden Frau passieren – damit sie anderen einen Weg durch den Schmerz weisen konnte? Damit der Schmerz auch in deren Leben endlich einen Ausweg finden durfte? "Ich habe während meiner Hospizarbeit viele solcher bewegenden Geschichten zu hören bekommen. Und erlebt." Und man weiß einfach, dass mit ihrem eigenen Erleben Moni Wehrstein diesen Menschen immer auf Augenhöhe begegnen konnte. Keine hohlen Phrasen. Nur Authentizität. Und Wahrhaftigkeit. Sie war die Verbündete, die den Weg schon sehr gut kannte, den die anderen selbst noch vor sich hatten. Egal, ob als Sterbende. Und mehr noch als deren Angehörige. "Ich spüre es, ich seh’ es, ich riech’ es, wenn jemand stirbt", sagt Moni Wehrstein noch, diese beeindruckende Wegweiserin. Die keine Angst mehr von dem hat, was den meisten anderen Lebenden doch so viel Angst einzujagen vermag: Der Tod. Und das Sterben.

Info: 25 Jahre Hospiz-Gruppe Nagold

Die Festveranstaltung zum 25-jährigen Bestehen der Hospiz-Gruppe Nagold am heutigen Freitag, 9. Oktober, ab 18 Uhr im Kubus Nagold ist öffentlich und kostenlos. Geboten wird neben den Grußworten und der Festrede von Johannes Horlemann, Vize-Präsident der Deutschen Gesellschaft für Schmerztherapie (DGS), die Theateraufführung "Orfeus und Eurydike", als Clownsmärchen von Mauro Guindani – gespielt von Christa Ohler und Sjef van der Linden. Informationen zur Hospiz-Gruppe Nagold gibt es auch im Internet: www.hospizgruppe-nagold.de