Hans Köhler hat noch nicht entschieden, was aus seinem staunenswerten Ortsarchiv wird, über das er mit unfehlbarem Überblick gebietet und weiter anwachsen lässt. Foto: Bernklau Foto: Schwarzwälder-Bote

Der frühere Mindersbacher Ortsvorsteher Hans Köhler hat die Dorfgeschichte fast lückenlos dokumentiert

Von Martin Bernklau

Nagold-Mindersbach. Ein brütend heißer Tag war dieser 15. August 1989 gewesen. Hans Köhler hatte gegen halb sechs noch auf den Mähdrescher gewartet. Als er den Rauch und erste Flammen in der Scheuer sah, schnappte er sich einen Eimer. "Das Wasser läuft so langsam", dachte er sich noch und rannte los. Nur wenige Augenblicke später war er zurück und alarmierte sofort die Nagolder Feuerwehr.

Aber es war alles zu spät. Beim Ausrücken der Überlandbrandhilfe hatte es wegen eines Missverständnisses über den genauen Brandort noch Verzögerungen gegeben. Der Mindersbacher Haldenhof brannte bis auf Teile des Wohnhauses vollkommen ab. Im Stall starben mehr als 200 Schweine und Ferkel. Aber die Menschen blieben unverletzt. Ein abgeschalteter, aber zuvor heißgelaufener Häckslermotor "zwischen Weizen, Staub und Stroh", so stellte sich später heraus, hatte den Großbrand ausgelöst.

Der Verlust seines 1961 gebauten Aussiedler-Hofes war nicht die einzige Tragödie im Leben des heute 86-jährigen früheren Ortsvorstehers. Es war auch nur eines von vielen größeren und kleineren Unglücken, die Mindersbach über die Jahrhunderte hinweg heimgesucht haben. Seine eigene Katastrophe hat Hans Köhler mit ähnlich sachlich knappen Worten festgehalten wie so viele andere in seiner "Familien- und Hausgeschichte Mindersbach", einem schweren Folianten von knapp 500 Seiten.

Der Name des Autors steht nicht auf dem grünen Einband dieses weithin einzigartigen lokalhistorischen Werkes, das die Stadt Nagold 1995 "zur 700-Jahr-Feier des Dorfes Mindersbach" herausgegeben und mit einer Reihe von Sponsoren bezuschusst hat. Die akribische Arbeit von Hans Köhler, die er unvermindert weiterführt und vervollständigt, ist in der Tat unbezahlbar und hat ihm auch in Kreisen wissenschaftlicher Historiker und Genealogen höchste Anerkennung eingetragen. Mit einem eigenen Verweis-System verknüpft der Ortschronist Häuser und Menschen, Ereignisse und Daten, Pläne und Tabellen, Dokumente und Bilder zu einem präzisen Netzwerk über Jahrhunderte.

Schon seinem Großvater war der Hof im Ortskern nach einem Blitzschlag im August 1902 abgebrannt. Er starb im selben Jahr. Der Vater baute das Anwesen in der Spechttalgasse 30 wieder auf – wie der jüngste Sohn seinen Haldenhof neunzig Jahre später – und heiratete in zweiter Ehe Sara Dürr aus dem Dorf. Hans Köhler war das jüngste von fünf Kindern. Der älteste Bruder Karl starb schon mit zwölf Jahren. Hans Köhler, Jahrgang 1928, kannte ihn kaum noch. Bruder Gottlob war dann schon 1943 an der Ostfront beim heutigen Donezk, damals Stalino, in der Ukraine 19-jährig gefallen. Ihn selber hatte man als 16-jährigen Hitler-Jungen noch im Januar 1945 zur militärischen Ausbildung in eine SS-Kaserne nach Bad Ems eingezogen. Vater Johannes war noch im selben Jahr gestorben.

Paul, dessen Zweitgeborener, kommt im August 1946 mit einem Kopfschuss aus russischer Gefangenschaft zurück und stirbt im darauffolgenden Dezember, nachdem sich die Wunde bei der Oktober-Kirbe entzündet hatte. Nach einer landwirtschaftlichen Ausbildung übernimmt Hans Köhler 1948 den Hof mit Mutter und Schwester Hedwig, die bald nach Rohrdorf heiratet. Auch er heiratet in diesem Jahr. "Aber vorher musste ich mich für volljährig und ehemündig erklären lassen", erinnert er sich.

Auf dem Dachboden des Rathauses entdeckte er dieverstaubten Akten

Von 1959 an war er im Gemeinderat, dazu Bauernverbands-Funktionär und ehrenamtlicher Vorstandschef der Spar- und Darlehenskasse. Als Hans Köhler 1980 zum Ortsvorsteher des inzwischen nach Nagold eingemeindeten Mindersbach gewählt worden war ("weil der Stimmenkönig nicht wollte"), entdeckte er auf dem Dachboden des Rathauses die amtlichen Akten und Unterlagen ganzer Jahrhunderte, "verstaubt und verdreckt". Das war für ihn der Beginn einer Arbeit, die ihn nicht mehr losließ.

Angeregt von dem aus Rotfelden stammenden Hansmartin Ungericht von der Ulmer "Forschergruppe Stadt und Stätten", unterstützt von Helfern aus Kirche, Dorf und Stadt, trug er alle erreichbaren Dokumente zusammen, deutete und ordnete sie geradezu detailversessen zu einem faszinierenden Gesamt-Geschichtswerk: die zunächst Nagolder, dann Rohrdorfer Ehe-, Tauf- und Sterbebücher, "vollständig seit 1624", dazu Kauf-, Steuer- und Güterbücher und aus späteren Zeiten auch Fotografien der Häuser, von Hochzeitsgesellschaften, Familien, Freunden und Fußballmannschaften, der 1877 gegründeten Freiwilligen Feuerwehr, von Erstklässlern, Konfirmanden, Rekruten und vom Sängerkranz Mindersbach.

Natürlich weiß er, dass die Gründerfamilie des Schweizer Weltkonzerns Nestlé ihre Ahnen in Mindersbach hat – die seit 1540 nachweisbaren Nestles. Er hat die mutmaßlichen Pesttoten im Dreißigjährigen Krieg ebenso verzeichnet wie die vier Buben Calmbach, die 1889 innerhalb von zehn Tagen an der "Halsbräune" (Diphtherie) starben oder die vielen Toten der Spanischen Grippe von 1918; er hat Auswanderer nach Amerika vermerkt oder den nach dem Weltkrieg zum Mindersbacher gewordenen polnischen Zwangsarbeiter. Er hat den ledigen Metzger Jakob Henne verewigt, der am 21. November 1847 bei einem "Unfall mit dem Schragen" bei einer Hausschlachtung tödlich verunglückte.

Hans Köhler lebt allein auf dem Haldenhof, seit er seine Frau Irmgard 1997 ins Heim geben musste. Sie ist vor vier Jahren gestorben. Auch eine Tochter hat er verloren, Krebs. Die andere Tochter und der Sohn mit Frau schauen nach dem Vater, der sich noch ganz selbst versorgt.

Langweilig wird es ihm nicht. Er verfolgt das Leben im Dorf und in der Region ebenso wie das Weltgeschehen. Er liest viel und schwärmt gerade für einen eben erschienenen Familienroman aus dem Schwarzwald. Darin erkennt er das wieder, was er weiterhin für Mindersbach dokumentiert, "die Geschichte von Menschen". Er hat noch nicht entschieden, was aus seinem staunenswerten riesigen Archiv wird, über das er mit unfehlbarem Überblick gebietet und weiter anwachsen lässt.

Als Mindersbacher Ortsvorsteher hat Hans Köhler das kleine Wagnermuseum im Rathaus eingerichtet. Vor ein paar Jahren durfte er zu einem Genealogen-Kongress nach Leipzig reisen. Vielleicht würdigen ihn Stadt und Dorf auch noch mit einem öffentlichen Archiv. Es wäre nicht erstaunlich, wenn dann schon bald Volkskundler, Kulturwissenschaftler und Landeshistoriker forschend zu diesem historischen Schatz pilgern.