Alle Kinder profitieren von dem neuen Angebot. Foto: Schwarzwälder-Bote

An der Grundschule Tieringen gibt es eine Inklusionsklasse / Schüler mit erhöhtem Förderbedarf sind eingebunden

Von Christoph Holbein

Meßstetten-Tieringen. "Alle Kinder profitieren", ist sich Rektor Herbert Ottenbreit sicher. An der Grundschule Tieringen gibt es eine Inklusionsklasse, in der vier Schüler, die einen erhöhten Förderbedarf haben, mit den anderen Kindern zusammen betreut werden.

Dazu bildet Ottenbreit mit der Sonderschullehrerin Christine Fuchs von der Meßstetter Wilhelm-Busch-Schule ein pädagogisches Team. Mit zehn Stunden in der Woche und einer Stunde für die gegenseitige Absprache und Vorbereitung unterrichtet Fuchs seit diesem Schuljahr zusammen mit dem Rektor die erste Klasse. Die vier Kinder mit Entwicklungsverzögerungen besuchen also nicht die Eingangsklasse der Wilhelm-Busch-Schule, sondern werden gemeinsam mit den anderen Altersgenossen gefördert.

Besondere Formen fangen Defizite auf

Sprachliche, fein- und grobmotorische Schwierigkeiten, altersmäßige Verzögerungen und soziale Auffälligkeiten fangen die beiden Lehrer auf durch besondere Unterrichtsformen. "Ziel ist, dass die Kinder in der Grundschule bestehen und mit den anderen Kindern lernen und zusammen bleiben können", betont Gudrun Keim, Leiterin der Wilhelm-Busch-Schule. Dazu bedarf es Hilfen. Dabei kümmert sich Fuchs nicht nur um diese vier Kinder, auch die Defizite der anderen Schüler berücksichtigen die beiden Lehrer. Dadurch, dass sie zu Zweit in der Klasse sind, haben sie mehr Zeit für das einzelne Kind. Weder Eltern, noch die Mitschüler wissen, für welche Kinder Fuchs besonders zuständig ist, wer mehr zu fördern ist: Zur Gruppenarbeit im Nebenraum dürfen auch Sprösslinge mitkommen, die nicht entwicklungsverzögert sind – und: "Die freuen sich, wenn sie mitgehen dürfen", erzählt Fuchs.

Allerdings trennen die zwei Pädagogen die Klasse nicht oft und arbeiten sehr viel gemeinsam im Unterricht. Das große Klassenzimmer bietet da Möglichkeiten: Im Wechsel ist einer federführend für den Unterricht zuständig, der andere geht von Tisch zu Tisch und schaut, welcher Schüler Hilfe braucht. Dabei nehmen sie kein Kind aus. Die Vorgehensweise zeigt Erfolge: "Die Kinder halten erstaunlicherweise relativ gut mit. Es gibt keine wirklich immensen Defizite, dass einer total abgehängt ist", stellt Ottenbreit fest – wenn auch die Konzentration bei den Förderschülern schneller nachlässt. So wird etwa das Lesen immer besser.

"Das liegt an dieser Form des Unterrichts. Bei Problemen sind wir schnell vor Ort, merken sofort Schwierigkeiten und können einschreiten", erläutert der Rektor. Das lässt differenziertes Arbeiten zu – zum Beispiel mit anderen Arbeitsblättern für die schwächeren Schüler –, um jedes Kind individuell zu fördern. Damit sind größere Leistungen möglich und die Anforderungen für die vier Inklusionskinder höher, was Sinn macht. Denn, so Keim, Entwicklungsverzögerungen sind mit einer guten Förderung aufholbar: "Es kann also durchaus sein, dass das Kind in der dritten Klasse ganz normal integriert ist."

Mehr Stunden und eine Perspektive gewünscht

Herbert Ottenbreit wünscht sich deshalb mehr Stunden und Gudrun Keim die Perspektive, das Projekt über die erste und zweite Klasse hinaus zu erhalten: "Wenn sich nach zwei Jahren zeigt, dass diese Inklusionsklasse für die Kinder eine große Hilfe ist und weitere Stunden in der dritten Klasse notwendig sind, dann sollten wir das auch fortsetzen, damit die Kinder in der Grundschule bleiben können." Zumal davon auch gute Schüler profitieren, weil in der Klasse mehr Zeit für Kinder ist, die zusätzliches "Futter" brauchen.

Ein Nebeneffekt dabei: Die Kinder lernen soziale Kompetenz. Christine Fuchs ist vorrangig in Deutsch und Mathematik mit dabei sowie eine Stunde in "Mensch Natur Kultur", auch dort wäre eine komplette Doppelbesetzung sinnvoll. Die Kinder sind bereits vom Kindergarten gewohnt, differenziert zu arbeiten, etwa bei der Sprachförderung.

Und auch die Eltern haben die Verantwortlichen für diese Kooperation gewonnen. Ihre Kinder sind nicht ausgesondert, nicht stigmatisiert: "Das ist den Eltern unheimlich wichtig", sagt Keim. Trotzdem werde es auch weiterhin Sonder- und Förderschulen geben wie die Wilhelm-Busch-Schule, um besonders förderbedürftigen Kindern eine "wichtige Lernheimat", einen "Schonraum" zu eröffnen und damit eine Förderung in kleinen Gruppen.

Die Inklusionsklasse ist ein Wagnis: Nicht jeder Lehrer ist bereit, jemand mit im Unterricht zu haben. In Tieringen scheint es zu gelingen.

(hol). Der Begriff Inklusion vom lateinischen "inclusio", übersetzt "Einschluss", bedeutet unter anderem Einbeziehung und Dazugehörigkeit. In der Pädagogik heißt das, kein Kind zu separieren und alle Kinder einzufügen, sprich ihnen einen uneingeschränkten Zugang und die unbedingte Zugehörigkeit zu allgemeinen Kindergärten und Schulen zu ermöglichen. Damit entsteht etwa eine Schülergesamtheit, die berücksichtigt, dass deren Mitglieder unterschiedliche Bedürfnisse haben.

Während in den vergangenen Schuljahren Kinder mit erhöhtem Förderbedarf in der Eingangsklasse der Meßstetter Wilhelm-Busch-Schule gefördert wurden, wünscht sich das Staatliche Schulamt künftig eine wohnortnahe Förderung der Schulanfänger. So wurden die Grundschulen in Nusplingen und Tieringen ausgewählt für das Projekt der inklusiven Förderung: Alle schulpflichtigen Kinder werden in die erste Klasse eingeschult; die Kinder mit Förderbedarf erhalten Unterstützung im regulären Unterricht. Alle Erstklässler bleiben somit in ihrer sozialen Umgebung und haben keine langen Schulwege.

Momentan ist diese Förderung für die nächsten zwei Schuljahre genehmigt. Das Ziel lautet dabei, die Kinder nicht mehr aus ihrem sozialen Umfeld zu reißen, sondern vor Ort mit den anderen Kindern zusammen zu fördern. Die 22 Stunden in Nusplingen und Tieringen erbringt die Wilhelm-Busch-Schule.