BBC-Moderator Jimmy Savile (†) war Kult in Großbritannien. Nach seinem Tod im Jahr 2011 stellte sich heraus, dass er mehr als 500 Kinder und Kranke missbraucht und selbst vor Leichenschändung nicht zurückgeschreckt haben soll. Foto:  

Die Londoner Polizei soll in den 70er Jahren einen Pädophilenring gedeckt haben. Die Briten zeigen sich schockiert. Dabei erschüttern Missbrauchsskandale das Land seit Jahren.

London - Zeitungsartikel in Großbritannien lesen sich derzeit oft wie Kriminalgeschichten. Sie bringen zutage, was lange im Verborgenen lag. Von Gruppenvergewaltigungen ist die Rede und Sklaverei, von Sexualverbrechen und Pädophilenringen. Hat der Kindesmissbrauch in Großbritannien tatsächlich „industrielle Ausmaße“ angenommen, wie es Premierminister David Cameron kürzlich sagte? Vieles deutet darauf hin, auch die jüngsten Ermittlungen, nach denen Londoner Polizeibeamte in den 70er Jahren einen großen Pädophilenring gedeckt haben sollen. Der unabhängige Beschwerdeausschuss der Polizei untersucht die Vorwürfe, nach denen Beamte Beweismaterial unterdrückt, Ermittlungen verhindert oder hinausgezögert sowie Straftaten vertuscht haben sollen, weil sie auf die Verstrickung ihnen nahestehender Personen gestoßen seien. Laut „Guardian“ seien Politiker und hochrangige Polizisten in die Machenschaften verwickelt gewesen.

Die Anschuldigungen wiegen schwer und fallen zusammen mit einem neuen schockierenden Fall. Einem Bericht einer Kinderschutzkommission zufolge wurden in der Grafschaft Oxfordshire in den vergangenen 16 Jahren etwa 400 minderjährige Mädchen Opfer organisierter Banden mit meist pakistanischem Einwanderungshintergrund. Die Vergehen sind erschütternd. So wurden die Kinder unter anderem vergewaltigt, an andere Banden verkauft und gezwungen, Drogen zu nehmen.

Auch in der Hochglanzwelt der Promis wurde es gruselig, sobald das Scheinwerferlicht aus war. Erst vor wenigen Wochen wurde Glam-Rock-Musiker Gary Glitter von einem Londoner Gericht des Missbrauchs Minderjähriger sowie der versuchten Vergewaltigung schuldig gesprochen. Ein tiefer Fall für den 70-Jährigen, der einst in silbern glitzernden Overalls auf der Bühne stand, während ihm Tausende von Fans zujubelten. Doch hinter der Bühne lebte der Superstar seine pädophilen Neigungen aus. Bevor das Urteil verkündet wurde, hatten Zeuginnen unter Tränen von ihren Erfahrungen berichtet. Eine Krankenschwester, heute in ihren 40ern, erzählte, wie Glitter sie damals in seinem Rolls-Royce abholte und zu seinem Anwesen brachte. Die Achtjährige war begeistert. Vom Schwimmbad, vom Pony, von den Süßigkeiten. Doch nachts kam Paul Gadd, so sein bürgerlicher Name, zu ihr ins Bett geschlichen und versuchte, sie zu vergewaltigen. 40 Jahre blieb der Ex-Rocker ohne Strafe, aufgrund einer „Immunität des Ruhms“, wie es der Staatsanwalt nannte.

Die schaurigen Fälle reihen sich ein in jene Missbrauchsskandale, die das Vereinigte Königreich seit Jahren erschüttern. Viele Vergehen liegen lange zurück, begonnen hat die juristische Aufarbeitung jedoch erst im Zuge der Ermittlungen um den mittlerweile verstorbenen Starmoderator Jimmy Savile, der über Jahrzehnte Hunderte Kinder und Erwachsene missbrauchte und sich sogar an Leichen vergangen haben soll.

Ein kritischer Nachwuchs wurde aus dem Programm genommen

Redakteure des Senders BBC sollen bereits kurz nach Saviles Tod von den Anschuldigungen gewusst haben. Ein kritischer Nachruf auf Savile wurde Ende 2011 aus dem Programm gekippt. Die Vertuschungsvorwürfe trafen die BBC bis ins Mark. Anwälte der Opfer erklärten, ihre Mandanten gingen davon aus, dass es in den 70er und 80er Jahren bei der BBC einen organisierten Pädophilenring gab. Neben weiteren Verurteilungen wurde 2014 auch der ehemalige BBC-Starmoderator Rolf Harris schuldig gesprochen.

Doch die Enthüllungen betrafen nicht nur die Unterhaltungsbranche. Hinter den altehrwürdigen Mauern von Westminster sollen prominente Parlamentarier Kinder missbraucht haben, selbst von drei Morden wird gemunkelt. Ein Zeuge will beobachtet haben, wie ein konservativer Abgeordneter während einer Sexorgie einen Zwölfjährigen erwürgte. Hinweise auf prominente Pädophile wurden jedoch schnell beiseite geschafft. Betroffen ist auch das nationale Gesundheitssystem, so vergingen sich in staatlichen Krankenhäusern Mitarbeiter an Leichen. Und das ist noch nicht alles: Im nordenglischen Rotherham wurden über 16 Jahre lang mindestens 1400 Kinder Opfer von Sexualstraftätern – vergewaltigt, geschlagen, zur Prostitution gezwungen und versklavt. Interne Berichte seien unterdrückt oder ignoriert worden, heißt es in einem Report. Kinderschutzbehörden und Polizei hätten versagt. Auch hier waren die Täter meist Briten pakistanischer Abstammung.

Trotz all der Enthüllungen, eine gesellschaftliche Debatte wurde nicht losgetreten. Nur vereinzelt stand die tief verwurzelte Tradition des Klassensystems in der Kritik. Der frühere Vorsitzende der Konservativen, Norman Tebbit, sagte zu den Anschuldigungen gegen Politiker: „Die meisten gehen wahrscheinlich davon aus, dass man damals das Establishment, das politische System schützen wollte. Das war vielleicht wichtiger, als weiter nachzuforschen.“

Im Fall von Rotherham war es möglicherweise auch die Angst vor Spannungen mit Einwanderern. Die Sorge, als rassistisch oder befangen gegenüber Asiaten zu gelten, wenn sie gegen die nach außen unbescholtenen, größtenteils pakistanischstämmigen Familienväter vorgegangen wären, führte dazu, dass die Sozialarbeiter nicht genauer nachfragten. Politische Korrektheit als Entschuldigung fürs Wegschauen? Medien kritisierten, dass die britische Kultur der Zurückhaltung und Höflichkeit auf der Insel ihr Teil dazu beigetragen hat. Viele Opfer gingen zur Polizei, doch sie fanden kein Gehör. Wie wichtig die Aufarbeitung, die nun begonnen hat, ist, zeigen ihre Ergebnisse. Fast wöchentlich bringt sie neue schreckliche Fälle ans Licht.