Abschied von der Kinderklinik: Das Team der Diabetesambulanz hat Thorsten Hinrichs geholfen, selbst Verantwortung für seine Krankheit zu übernehmen. Foto: Klebitz

Diabetiker Thorsten Hinrichs zieht für Studium von Horb nach Kiel. Angst vor Unterzuckerung begleitet ihn stets.

Horb/Tübingen - Seine Bücher sind Thorsten Hinrichs wichtig. Tolkiens "Herr der Ringe" und eine ganze Reihe Wolfgang-Hohlbein-Bände packt der 21-Jährige in die erste Umzugskiste. "Ich mag Fantasy, alles mit Außerirdischen", sagt Thorsten und passt auf, dass die Bücher alle ordentlich im Karton landen. Es ist natürlich keine Reise in eine andere Welt oder Galaxie – sein Umzug von Horb (Kreis Freudenstadt) ins rund 800 Kilometer entfernte Kiel ist dennoch keine Selbstverständlichkeit.

Der 21-Jährige hat, seit er neun ist, Diabetes Typ I und wohnt noch in seinem Jugendzimmer. Jahrelang hat sich seine Mutter rund um die Uhr um ihn gekümmert; morgens dafür gesorgt, dass er sein Verzögerungsinsulin richtig spritzt, dann die Pausenbrote für die Schule zubereitet, nachts oft kontrolliert, ob ihr Sohn tatsächlich schläft, oder ob er sich im lebensgefährlichen Unterzucker befindet. Jetzt zieht Thorsten aus. "Meine Freundin wohnt in der Nähe von Hamburg, ich habe einen BWL-Studienplatz in Kiel bekommen. Weitere drei Jahre warten, bis ich fertig bin mit dem Studium, wollten wir nicht", sagt Thorsten. "Es ist ein komisches Gefühl", meint seine Mutter. Trotzdem ist sie sicher, dass ihr Sohn es schaffen wird. "Ich weiß, ich kann ihm vertrauen. Er wurde gut vorbereitet auf diesen Moment."

"Ein neuer Arzt, eine neue Praxis, neue Schwestern. Ich hab das Gefühl, man muss von vorne anfangen"

Von Zuhause ausziehen, komplett in ein selbstständiges Leben aufbrechen, neue Erfahrungen machen und die damit verbundenen Probleme – all das erleben gesunde junge Erwachsene auch.

Für Thorsten, wie für andere kranke Jugendliche, kommt allerdings noch eine weitere Veränderung dazu: der Abschied aus der Kinderklinik. Chronisch kranke Jugendliche müssen, wenn sie gesetzlich als erwachsen gelten, in die Erwachsenenmedizin wechseln. Häufig kommt es dann zu einem Bruch in der Versorgung.

"Ein neuer Arzt, eine neue Praxis, neue Schwestern. Ich hab das Gefühl, man muss von vorne anfangen", sagt Thorsten. Zwölf Jahre lang war er alle drei Monate in der Diabetesambulanz der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendmedizin Tübingen zur Kontrolle. Auch mit 21 noch. "Mit 18 wollte ich mir schon mal einen Erwachsenendiabetologen suchen", erzählt Thorsten. "Zu diesem Zeitpunkt waren aber meine Werte nicht gut. Ziemlich unregelmäßig." Thorsten musste sogar für eine Woche ins Krankenhaus. Die Ärzte haben ihn komplett durchgecheckt und dann neu eingestellt. Einen Wechsel in die Erwachsenenmedizin hielt Thorstens Arzt Andreas Neu zu diesem Zeitpunkt nicht für gut. "Er hat mir sogar deutlich abgeraten", sagt Thorsten. Zuerst sollten sich seine Werte wieder normalisieren.

"Generell verläuft bei den Jugendlichen vor allem auch die psychosoziale Reifung sehr unterschiedlich und ist mit 18 meist nicht abgeschlossen", erklärt Neu. Nicht jeder seiner Patienten sei, auch wenn er gesetzlich als erwachsen gilt, automatisch in der Lage, die Kinderklinik zu verlassen. Doch auch wenn er teilweise etwas aufgeschoben werden könne, früher oder später müsse der Wechsel stattfinden. Er ist gesetzlich vorgeschrieben. In einem langen Prozess, der sogenannten Transition, werden die kranken Jugendlichen auf das Erwachsensein vorbereitet. Im besten Fall beginnt dieser Prozess der Erziehung zur Eigenverantwortlichkeit laut Neu schon sehr früh. Nämlich vor Eintritt in die Pubertät.

Thorsten kann sich gut an die Anfänge erinnern: "Das Team der Kinderklinik hat mir schon früh beigebracht, wie ich meinen Blutzucker selbst messen und Insulin spritzen kann. Mit neun Jahren war das für mich alles nicht leicht mit einer Krankheit, die nicht mehr weggeht." Besonders von seinen Mitschülern habe er zu fühlen bekommen, dass er "irgendwie anders" ist als die anderen. "Kinder können da ziemlich brutal sein", sagt Thorsten heute. Dass die Diabetes-Beraterin Martina Lösch-Binder aus der Kinderklinik an einem Vormittag zu ihm in die Klasse gekommen sei, habe geholfen. Nicht nur den Kindern, auch den Pädagogen an der Schule hat sie erklärt, was dieser Diabetes eigentlich genau ist.
Auch Thorsten selbst, der schon mit neun angehender Experte seiner Krankheit war, bekam in der Kinderklinik immer wieder Schulungen. Zunächst ging es hauptsächlich ums Essen, um Ernährungslehre. Der 21-Jährige erinnert sich noch an einen Ausflug in den Supermarkt mit der Diabetesberaterin und an einen zu McDonalds.

"Vor allem weil ich nicht von Geburt an Diabetiker war, war es als Kind für mich natürlich doof, wenn man bei den Süßigkeiten plötzlich aufpassen muss", weiß Thorsten noch. Bei der Fast-Food-Kette habe es dann erst mal einen großen Burger gegeben – um hinterher genau zu beobachten, was der mit dem Insulinspiegel anstellt.

Später, als Themen wie Alkohol und Autofahren für Thorsten interessant wurden, bekam er auch dazu Training in der Kinderklinik. "Ein Kumpel von mir, der auch Diabetiker ist, kam zu dieser Zeit mal aus einem Festzelt gekrochen. Er hatte zu viel getrunken und dann auch noch seine Insulinpumpe verloren", erzählt Thorsten. Ihm selbst sei so etwas nie passiert. Weil er generell "nicht der Typ ist, der so etwas braucht". Aber auch, weil er in der Kinderklinik gut betreut und aufgeklärt wurde. Für entscheidend hält er dabei vor allem zwei Punkte: "Ich habe von meinen Ärzten nie Anweisungen bekommen", sagt er. Er sei in Abläufe und Prozesse, etwa des Entwickelns eines Spritzplans oder des Insulinwechselns einbezogen worden. Und: "Das Team der Kinderklinik war ein Begleiter für mich. Ich hatte immer das Gefühl, ich habe jemanden hinter mir. Jemanden, den man jederzeit anrufen kann und der nicht erst in die Akte schauen muss, wenn ich komme, um zu wissen, was das Problem ist, oder wie es mit meinem Diabetes läuft."

Dass das keine Selbstverständlichkeit ist, weiß Thorsten gut. Er erzählt von einer 14-jährigen Bekannten, auch sie ist chronisch krank. "Da läuft es nicht so optimal wie bei mir. Ähnlich wie bei vielen Hausärzten", sagt Thorsten. "Der Arzt hat nicht viel Zeit. Die Atmosphäre ist kühler. Man wird durchgeschleust und ist eben einfach eine Nummer." Seine Bekannte sei mit der Situation überfordert gewesen.

Vielen Jugendlichen geht es ähnlich. Mit dem Wechsel aus der Pädiatrie in die Erwachsenenmedizin fallen plötzlich wichtige Ansprechpartner weg – und das ausgerechnet in einer sowieso schon schwierigen Lebensphase. Ärzte, Krankenschwestern und Therapeuten, die über die Jahre zu Vertrauten geworden sind. Viele chronisch Kranke lassen in dieser Zeit ihre Therapie schleifen. Oft mit schweren Folgeschäden bis hin zum Organversagen.
Betroffen davon sind nicht nur Diabetiker. Auch Jugendliche mit Rheuma, Mukoviszidose, Epilepsie oder nach einer Organstransplantation. Auch Familien mit behinderten Jugendlichen haben fast immer Probleme mit dem Übergang. Ihnen fällt es besonders schwer, geeignete Ärzte für ihre meist unselbstständigen Kinder zu finden.
Das Problem ist bekannt. Die Deutsche Gesellschaft für Transitionsmedizin setzt sich dafür ein, dass der Übergang deutschlandweit geplant gestaltet wird. So ist das "Berliner Transitionsmodell" entwickelt worden, mit dessen Hilfe medizinische Fehl- und Unterversorgung vermieden werden soll.
Gemeinsam mit einem interdisziplinären Team setzt sich "Hilfe für kranke Kinder", der Förderverein der Kinderklinik Tübingen, aktuell mit seinem Projekt "Rückenwind" verstärkt dafür ein, dass chronisch kranke und behinderte Jugendliche beim Wechsel unterstützt werden. "Wir wollen unter anderem Jugendsprechstunden ausbauen und fördern und den Jugendlichen sogenannte Case Manager zur Seite stellen, die den Transitionsprozess intensiv begleiten", sagt die Diplom-Pädagogin Marlen Kraus, die die Tübinger Arbeitsgruppe koordiniert. Bei möglichst allen Jugendlichen solle der Wechsel so gut gelingen wie bei Thorsten.

"Der Abschied fällt schon schwer", sagt sein Arzt Andreas Neu beim Abschlussgespräch mit dem 21-Jährigen in der Kinderklinik. "Wir kennen uns schon sehr lange, und es ist ein Loslassen seitens der Ärzte und Therapeuten. Das erfordert viel Vertrauen." Bei Thorsten habe er aber keine Sorgen, dass sein Start in Kiel nicht gelingt. "Du kannst deinen Diabetes jetzt selbst managen, und du hast ja unsere Telefonnummer."