Ein großes Wandgemälde in der Liebfrauenkirche erinnert an die Pestepidemie der Stadt im Mittelalter

Von Franz Geßler

Horb. Der letzte Beitrag zum Thema "Vom Galgenfeld zum Hohenberg" behandelte das Pogrom an der jüdischen Bevölkerung Horbs im Jahr 1348. Sie wurde auf dem Hohenberg in jener Zeit auf einem großen Scheiterhaufen verbrannt. Damals wurden die Juden der Brunnenvergiftung beschuldigt, welche die grassierende Pest im Städtchen ausgelöst haben soll.

In ganz Europa verringerte sich damals die Bevölkerung durch die Seuche etwa um die Hälfte. Nur unter diesen Umständen ist das Thema des großen Wandbildes an der rechten Chorwand der Liebfrauenkirche zu verstehen. Es erinnert an die Horber Pest in der Mitte des 14. Jahrhunderts und zeigt einen übergroßen Tod als Sensenmann.

Zunächst sind jedoch die glücklichen Umstände zu erwähnen, welche die Wandmalerei vor der Zerstörung bewahrt haben:

Schon die Tiroler Franziskaner störte die Jahrhunderte alte Malerei in der Kappel bei der Umgestaltung zur Klosterkirche. Sie durchbrachen die Wand, um ein Fenster und eine Tür einbauen zu können. Dabei gingen Bildteile unwiederbringlich verloren. Allerdings verhinderte die Übertünchung des restlichen Gemäldes weitere "Untaten", da es unsichtbar unter der konservierenden Farbschicht versteckt war. Besonders kritisch wurde die Situation, als Wilhelm Klink bei der Kirchenrenovierung im Jahr 1934 Wandmalereien entdeckte. Wegen nicht kalkulierbarer Mehrkosten für deren Restaurierung ließ der damalige Verwalter die Bildfunde mit dem Spitzhammer zerstören. Das große Fresko im Chor entging knapp diesem Schicksal, da es vermutlich unentdeckt geblieben ist.

Hauptdarsteller im Bild ist der sensenschwingende Tod

So war die Überraschung umso größer, als die Restauratoren bei der Kirchenrenovierung im Jahr 1977 bei der Suche nach verborgenen Wandmalereien auf das Bild an der rechten Chorwand stießen. Die zuständigen Gremien beschlossen daraufhin die Freilegung des Freskos. Die dabei entstandenen Kosten von 40 000 DM wurden hälftig auf die Kirchengemeinde und das Landesdenkmalamt aufgeteilt. Nach der Restaurierung stand außer Zweifel, dass die Kappel um ein bedeutendes Kunstwerk reicher geworden war. Während der obere Teil des Freskos das seltene Motiv der Kreuzigung Christi "am Lebensbaum" darstellt, war man sich über die ikonografische Bedeutung des unteren Bildteiles nicht im Klaren. Hier helfen jedoch die überregionalen Erkenntnisse aus der so genannten "Totentanzforschung" weiter. Zusammen mit der Ortsgeschichte führen sie im Ergebnis zu einem plausiblen Inhalt des Bildes.

Der Hauptdarsteller im Bild ist der sensenschwingende Tod. Übergroß dargestellt dominiert er nicht nur das Geschehen, sondern ist die entscheidende Symbolfigur. Zunächst erkennen wir an ihm einige Auffälligkeiten. Am Totenschädel befindet sich eine Art Stirnreif, gleichbedeutend mit einer Krone, die bei anderen Darstellungen teilweise mit Gewürm verflochten ist. Über den Schultern ist das Leichentuch zu Flügeln gerafft. Nicht nur zufällig wird dadurch die Figur zum Todesengel des Endgerichts und Herrscher erhöht, der als Sieger ungerührt seinen Sensenhieb ausführt. Entscheidend sind aber die braunen Flecken auf dem Oberkörper. Diese zeigen die Verunstaltung der Haut durch die Seuche und machen den Tod zum Verbreiter der Pest. Damit nahm der Tod nicht nur die Gestalt seiner Opfer an, sondern war gleichzeitig Mörder und Opfer, was dem symbolischen Denken der mittelalterlichen Menschen entsprach.

Am auffälligsten ist jedoch die Darstellung des Sensenmannes als mumifizierte Leiche. Damit ist das Horber Wandbild in die frühesten Totentanzszenen einzustufen. Einem alten Brauch zufolge wurden im Ausland Gefallene oder verstorbene Personen ihrer Eingeweide entledigt, dass sie nicht als verweste Leichen nach der Überführung in der Heimat ankamen. Papst Bonifaz VIII. hatte zuvor im Jahr 1300 die barbarische Sitte endgültig verboten, die Leichen zu diesem Zweck auszukochen.

Ab da fanden Leichenbildnisse in der Kunst Eingang. Deshalb ist die konservierte Gestalt des Horber Sensenmannes aus zusammengeschrumpfter Haut und Knochen ein realistisches Abbild der schrecklichen Wirklichkeit.

Ein weiteres Indiz der frühen Malerei ist auch die schreitende Haltung des Horber Sensenmannes im Gegensatz zu den tänzelnden Bewegungen der Skelette bei den späteren Totentanzdarstellungen. Gerade dieser Schritt zur Vorwärtsbewegung passt auf einen alten Spruch des Volksmundes: "der macht Schritt wia dr Horber Daot". In der Literatur ist diese Redensart geschichtlich überliefert mit: "Der nimmt Schritte wie der Horber Tod" (Schwäb. Wörterbuch von H. Fischer, 1911). Sie stammt aus dem Gebiet Rottweil/Täbingen, also außerhalb von Horb. Bei Kirchenführungen in der Kappel kann man heute noch, erwähnt man dieses Zitat, erfahren, wie Teilorthorbern nicht nur dieser Spruch bekannt ist, sondern dass sie teilweise sogar noch eine Person kennen, die "so läuft". Es sind hochgewachsene Mannspersonen, meist hager, vielleicht vornübergebeugt, die mit weit ausholenden Schritten unterwegs sind. Was in der Stadt heute weitestgehend unbekannt ist, war vor Jahrzehnten in Horb noch eine gängige Redensart.

Natürlich bezog sich diese Redensart nicht nur auf den vorwärtsschreitenden Sensenmann, sondern auch auf die rasante Verbreitung der Pest im Städtchen. Somit vereinen sich das zeitgenössische Wandbild und die einstmalige Wirklichkeit mit dem Spruch des Volksmundes. Das schockartige Massensterben innerhalb der engen Mauern Horbs blieb dem Umland damals nicht verborgen, doch ohne den Konstanzer Domherrn Heinrich Truchseß von Diessenhofen wüssten wir heute nichts oder kaum etwas davon. Denn der Gewannname "Judengrube" allein böte nur einen vagen Hinweis.

Heinrich Truchseß von Diessenhofen beschrieb am 20. Dezember 1348 den Grund und den Vorgang der Hinrichtung der Juden in Horb, sodass die Horber Pestepidemie Eingang in die schriftliche Überlieferung fand. Damit erhält sein Bericht eine zentrale Bedeutung für die Einordnung des Pestbilds in der Liebfrauenkirche. Das Fresko müsste eigentlich als Mahnmal und zur Erinnerung kurz nach dem Massensterben entstanden sein. Ist es im zeitlichen Zusammenhang mit dem Neubau der Kappel 1363 gemalt worden, die vielleicht als ein Zeichen der Dankbarkeit wegen der überstandenen Seuche gebaut wurde? Der renommierte Platz im Chor der Kirche und die Größe des Wandbildes sprechen dafür.

Jedenfalls reiht sich das Horber Pestbild in die frühesten Darstellungen dieser Art ein. Nur noch wenige davon sind im deutschsprachigen Raum erhalten geblieben.