Über Gedenktage, wie den zu Luthers angeblichem Anschlag von Thesen an der Wittenberger Kirche, hielt der Historiker Paul Münch im Evangelischen Gemeindehaus einen Vortrag. Foto: Ertl Foto: Schwarzwälder-Bote

Vortrag: Paul Münch setzt sich kritisch mit Institution der Gedenktage auseinander

Vor 500 Jahren soll Martin Luther 95 Thesen gegen die Missstände der Kirche an die Schlosskirche von Wittenberg genagelt haben. Was bringt es, an solche Jubiläen zu erinnern?

Hechingen. Die Antwort auf solche Fragen scheint viele zu interessieren. Kaum ein Sitzplatz war mehr frei am Dienstagabend gegen 19.30 Uhr zu einem Vortrag im evangelischen Gemeindehaus zum Thema: "Jubiläumskultur? Vom Nutzen und Nachteil konfessioneller Gedenktage", den der Historiker Paul Münch hielt.

Dass der Vortrag im Rahmen einer Veranstaltungsreihe stattfand, die dem Gedenken an 500 Jahre Reformation gewidmet ist, ließ schon vermuten, dass der Referent Jubiläen nicht für völlig nutzlos hält. Und immerhin ist diese Veranstaltung ökumenisch ausgerichtet und soll auf diese Weise auf jeden Fall zur Vertiefung der Beziehungen zwischen Christen unterschiedlicher Konfessionen beitragen.

Nach der Begrüßung durch den katholischen Diakon Karl-Heinz Schäfer, der sich von diesem Abend einen "historischen Rückblick für einen geweiteten Blick auf die Gegenwart" erhoffte, übernahm Paul Münch das Wort.

Er ist Professor für Neuere Geschichte und hat an der Universität Duisburg-Essen gearbeitet. Mittlerweile befindet er sich im Ruhestand.

Am Dienstag warf Münch einen durchaus kritischen Blick auf den Reformationstag. Zum Einstieg seines Vortrags beantwortete er die Frage "Was ist ein Jubiläum?" und nahm im Anschluss das Ereignis des Thesenanschlags genauer unter die Lupe.

"Der Thesenanschlag ist historisch nicht belegt", erklärte Münch. Sicher sei nur, dass Martin Luther am 31. Oktober 1517 seine Thesen verschickt habe. Ob die Hammerschläge am Schloss von Wittenberg je erklungen waren, bezweifelte der Historiker hingegen stark. Dafür gebe es keinerlei historische Belege. "Das ist ein krasses Beispiel, wie die historische Erinnerung durch fiktive Ereignisse getrübt wird", sagte er.

Auch die Sicht auf Luther habe sich mit der Zeit stark verändert. Während das erste Jubiläum 1617 vor allem der Selbstvergewisserung der neuen Konfession diente, stand Luther 1817 bereits als Begründer für ein ganz neues Menschenbild. 100 Jahre später sei sein Charakter regelrecht mit dem der Deutschen gleichgesetzt worden.

Jubiläen sind immer auch Identitätsfeiern

Und heute? Da sei das Reformationsjubiläum kein rein kirchliches Gedenken mehr. Der Staat fördere die Luther-dekade, einen zehnjähriger Festzyklus anlässlich des 500-jährigen Jubiläums, jährlich mit rund fünf Millionen Euro.

Paul Münch ging am Dienstag außerdem der Frage nach, ob es sich beim Reformationsjubiläum um ein rein interessengeleitetes Gedenken handele. "Jubiläen sind immer auch Identitätsfeiern", sagte er. Dadurch werde die eigene Konfession verankert und gegen die Konkurrenz abgrenzt.

Außerdem bestehe die Gefahr ideologischer Verzerrung: Zum Beispiel werde Luther gerne als Verfechter für Demokratie, Freiheit und Toleranz gesehen, was jedoch nicht den historischen Tatsachen entspreche.

Abschließend ging Münch auf ökumenische Ansätze ein. "Versöhnte Verschiedenheit" sei ein Ziel, das mit der ökumenischen Gestaltung konfessioneller Gedenktage erreicht werden könnte.