Stuttgart - Etwas Bedrohliches geht von dem Inspektor aus, der mit grimmiger Miene auf die zierliche Dame einredet. Die wirkt in ihrem Rattanstuhl ein bisschen verloren, so riesig ist das Möbelstück. Als die Dame dann aufspringt und zu einer Antwort ansetzt, ertönt plötzlich ein Ruf aus dem Off: „Die Kekse, Anita!“ Sichtlich erschrocken fasst sich die Schauspielerin an den Kopf – und greift gelassen zur Keksdose. „Auch ein Keks, Herr Inspektor?“, fragt sie zuckersüß, als hätte es den Zwischenruf nie gegeben.

Wer Anita Kupsch bei einer Theaterprobe erlebt, der merkt ihr die Erfahrung regelrecht an: Seit 60 Jahren steht die gebürtige Berlinerin schon auf der Bühne. Bekannt wurde sie vor allem durch ihre Rolle als Biggi in der Serie „Okay S.I.R.“, und als Arzthelferin Gabi Köhler an der Seite von Günter Pfitzmann in der ARD-Vorabendserie „Praxis Bülowbogen“. In Latzhose und Pünktchen-Shirt sähe man der 76-Jährigen jetzt ihr Alter kaum an, wäre da nicht der strohweiße Bob. Mit ihr und vier weiteren Schauspielern steckt Theaterregisseur Manfred Langner mitten in den Proben für das Stück „Harold und Maude“. Für die Komödie im Marquardt in Stuttgart hat der Intendant der Schauspielbühnen, Manfred Langner, das Theaterstück von Colin Higgins nach dem gleichnamigen Film von 1971 neu inszeniert. Auf der Bühne spielt Kupsch die lebensfrohe und impulsive 79-jährige Maude, in die sich der lebensmüde Junge Harold verliebt. „Die schwarze Komödie geht einfach ans Herz“, findet Langner. Sie behandle gleichzeitig die Orientierungslosigkeit der Jugend und die positive Sicht aufs Alter, so der Regisseur weiter.

Johannes Hallervorden spielt in Stuttgart seine erste Hauptrolle

Aber was ist mit der zweiten Hälfte des kuriosen Liebespaars, dem blutjungen und selbstmordaffinen Harold? Langner hält sich auch hier bewusst an die Altersvorgaben, die das Stück vorgibt: Er hat die Rolle des 20-jährigen Harold mit Johannes Hallervorden besetzt. „ Das ist meine erste durchgängige Hauptrolle überhaupt!“, gibt der junge Franzose zu, der mittlerweile – wie Kupsch – in Berlin lebt und im dortigen Schlosspark-Theater eigene Gala-Programme präsentiert. „Und die Rolle ist wirklich schön: mal komisch, dann traurig und dann sehr nachdenklich.“

Als der 18-Jährige die Bühne betritt, wirkt er neben Kupsch etwas unbeholfen. Auch optisch scheint das Paar einfach nicht zusammenpassen zu wollen: Hallervorden ist fast einen ganzen Kopf größer als seine zierliche Partnerin und wirkt mit seinem Bart und der tiefen Stimme älter, als er ist. Aber nicht nur ihm fällt das Spielen mit zahlreichen Requisiten sichtlich schwer – auch die erfahrene Dame kämpft immer wieder damit. „Ich hasse Requisiten in Massen, es ist einfach schwerer sich zu merken, was wann in die Hand kommt“, gibt Kupsch zu. Während der Probe weist der junge Hallervorden sie immer wieder dezent auf Requisiten hin, auch kann er alle Texte auswendig. Und so passen die beiden im Spiel plötzlich doch perfekt zusammen, ergänzen sich immer wieder: Wo Kupsch Stellen vergisst, springt Hallervorden einfach ein. Umgedreht erleichtert sie ihm mit ihrem natürlichen Spiel die Interaktion, nie fällt sie aus der Rolle, denn sie selbst scheint bereits zu Maude geworden zu sein.

Aber wie ähnlich ist sie ihrer Rolle? „Das einzige, was ich mit Maude gemeinsam habe, ist das positive Denken“, erklärt die 76-Jährige bedächtig. „Ich wollte die Rolle schon früher spielen, aber da hieß es immer: Du bist zu jung!“ Sie zwinkert ihrem Kollegen zu. Während sich Kupsch auf das Spiel mit dem Publikum freut, kämpft Hallervorden noch mit Lampenfieber: „Wo die Angst herkommt, kann ich nicht sagen, aber ich bin dann wirklich nicht ansprechbar“, sagt er und muss lachen. „Das ist bei meinem Mann ganz anders!“, wirft Kupsch ein, „ er hat keine Ahnung, was er da macht und deshalb kümmert es ihn nicht.“ Als ahnungslosen Engel auf der Bühne, wie die Schauspielerin ihren Partner bezeichnet, spielt Klaus-Detlef Krahn zahlreiche Nebenrollen in „Harold und Maude“. Denn Regisseur Langner gefällt die Leichtigkeit, die Krahn mit ins Spiel bringt. „Das Stück wird echter mit jemandem, der nicht eine Rolle spielt, sondern eben er selbst ist. Denn mit Harolds spektakulären Selbstmorden und dem umklappbaren Bühnenbild passiert hier schon einiges“, so Langner.

Gemeinsam mit seinem Ensemble will der Theaterregisseur nach dem Ablauf der Spielzeit in Stuttgart das Stück in Berlin weiter aufführen. Vielleicht beginnt ja für Hallervorden seine Karriere dort, wo sie bei Anita Kupsch endet. Denn so langsam müsste die 76-Jährige doch endlich genug von der Bühne haben, oder? O nein, das sieht die Schauspielerin ganz anders: „Ich höre erst auf, wenn ich im Lotto gewinne!“

Ab 16. September bis Mitte November „Harold und Maude“ in der Komödie im Marquardt.