Hubert Gulde (von links), Alfons Koch und Willy Schreiber sichten die alte Bauakte des Schafhauses (großes Bild). Auf einer "Situationsskizze" von 1884 ist der alte Pfarrstall unweit der Kirche eingezeichnet (kleines Bild links). Eine Postkarte von Anfang der 1920er-Jahre zeigt das Schafhaus – ­ganz links am Rand – ­in seiner ursprünglichen Gestalt; jetzt wird es abgebrochen (kleine Bilder, von oben). Fotos: Schnurr Foto: Schwarzwälder-Bote

Ortsgeschichte: Geislinger Gebäude war Bleibe für Vertriebene, Flüchtlinge und Obdachlose / Demnächst steht der Abriss an

Im Juli hat der Gemeinderat den Auftrag zum Abriss des sogenannten "Schafhauses", Brückenstraße 56, erteilt. Jetzt kommt das historische Geislinger Gebäude unter den Bagger.

Geislingen. "Im Schafhaus haben viele meiner Kameraden gewohnt", erinnert sich der Geislinger Willy Schreiber an seine Jugend: In den 1940er- und 1950er-Jahren war das Gebäude in der damaligen "Raude Gass’", direkt gegenüber dem Wohnhaus der Schreibers, Unterkunft für Heimatvertriebene aus den sowjetisch besetzten deutschen Ostgebieten. Doch seine Geschichte reicht viel weiter zurück.

1885 hatte die Gemeinde Geislingen die gutsherrschaftlichen Weiderechte gekauft. Weil man keinen eigenen Stall besaß, wurden Schafe – damals ein Wirtschaftsfaktor im Ort – zeitweilig im Pfarrstall der Kirchengemeinde untergestellt. Auf einer Karte aus dem Jahr 1884, aufbewahrt im Stadtarchiv, ist dieser an der Stelle eingezeichnet, an der in den 1970er-Jahren die alte Raiffeisenbank gebaut wurde.

Doch das Provisorium ging nicht lange gut: Der damalige Ortspfarrer duldete die Schafe nur ein Jahr lang in "seinem" Gebäude. Am 23. Februar 1885 fällte der Gemeinderat daher den Beschluss, einen eigenen Stall für zuerst 500 Tiere errichten zu lassen. 3000 Mark betrugen die Baukosten, zwei Drittel dieser Summe wurden über ein zehnjähriges Darlehen finanziert.

Knapp ein halbes Jahrhundert wurde das Gebäude tatsächlich als kommunaler Schafstall genutzt. Eine Postkarte von Anfang der 1920er-Jahre, ebenfalls im Archiv erhalten, zeigt noch sein ursprüngliches Aussehen mit einem großen Scheunentor.

1923, während der Weltwirtschaftskrise, wurde im Erdgeschoss jedoch eine erste Wohnung für Bedürftige eingerichtet. Nach und nach entstanden mehr und mehr Quartiere im Schafhaus – und eine zentrale Waschküche.

Während des Zweiten Weltkriegs waren dann serbische Kriegsgefangene dort untergebracht. Sie mussten in einer Geislinger Schuhfabrik Zwangsarbeit leisten.

Nach dem Krieg kamen Vertriebene auch nach Geislingen – und viele von ihnen fanden eine erste Bleibe im Schafhaus. Noch während der Zeit der französischen Militärverwaltung wurde das Gebäude auf drei Etagen aufgestockt – die Baufreigabe ist auf den 22. April 1948 datiert.

Bis zu 16 Familien lebten danach zeitweise in dem Gebäude, oft unter ärmlichen Bedingungen, wie Stadtarchivar Alfons Koch berichtet. So belegt ein Benutzungsplan der Waschküche aus dem Jahr 1954, dass jede Familie nur einmal monatlich groß waschen durfte.

Das Wasser dafür holten die Bewohner aber bald nicht mehr vom Schafbrunnen, der unweit des Hauses sprudelte, dort wo heute Glascontainer stehen: Mit Beschluss vom 23. September 1948 wurde jener verdolt. Heute erinnert nur noch der Name der am Narrenstüble vorbei führenden Straße an diesen.

Die Vertriebenen waren oft evangelischer Konfession. Dies und die Tatsache, dass sie nicht aus der Region stammten, führten gelegentlich zu Reibereien, wie sich ältere Geislinger noch gut erinnern. Dennoch sind viele von ihnen in Geislingen sesshaft geworden, und sie oder ihre Nachkommen leben oft noch heute in der Stadt.

In den 1960er-Jahren waren die meisten von ihnen jedoch in eigene oder gemietete Häuser gezogen. Nun wurden im Schafhaus Gemeindesozialwohnungen eingerichtet und bis in die 1980er-Jahre genutzt. 1989 kamen die ersten Asylbewerber darin unter. Danach wurde das Schafhaus auch zur Unterkunft für Sozialfälle und Obdachlose.

Der letzte Bewohner ist erst 2015 ausgezogen. Zu dem Zeitpunkt hatte der Gemeinderat das Schafhaus bereits als "nicht mehr menschenwürdig zu bewohnen" eingestuft und eine Instandsetzung als nicht mehr wirtschaftlich bewertet.

In der letzten Septemberwoche hat deshalb der Abbruch des Gebäudes mit Arbeiten im Innern begonnen. Nach dem "Ausräumen" steht zum Monatsende hin der Abbruch von Dach und Mauerwerk an. Dann werden die Trümmer abtransportiert, und bis zum Jahresende soll das Gelände eingeebnet sein.

Und dann? Bauamtsleiter Markus Buck erläutert die Pläne: "Das Grundstück am Rande des Sanierungsgebietes ist städtebaulich in einem Kontext mit dem angestoßenen Stadtentwicklungsprozess zu sehen." Es stelle eine Art "Eingangstor" Geislingens aus Richtung Rosenfeld beziehungsweise der Ortsteile Binsdorf und Erlaheim dar. Denkbar wäre zum Beispiel ein informeller Architektenwettbewerb zu dessen Gestaltung.

Eine Bürgerbefragung habe aber gezeigt, dass auch die Schaffung von Wohnraum denkbar wäre. "Der Gemeinderat wird die notwendigen Fragestellungen zu gegebener Zeit im Gesamtzusammenhang der Stadtentwicklungskonzeption aufgreifen und beraten", erklärt Buck.

Einen letzten Dienst für das Gemeinwesen hat das Gebäude übrigens am 1. Oktober geleistet: Die Freiwillige Feuerwehr hat darin unter realistischen Bedingungen den Einsatz geübt. Bald werden nur noch Erinnerungen und die alte Bauakte vom Geislinger Schafhaus übrig sein.