Die Kommandos von Patrick Gunesch (Zweiter von rechts) sind für die blinden MTV-Kicker spielentscheidend. Foto: MTV Stuttgart

Fußball: Patrick Gunesch aus Nagold ist Co-Trainer beim Blindenfußball-Bundesligisten MTV Stuttgart

Blindenfußball ist im Kommen. Am Freitag ist die EM in Berlin vor ausverkauftem Haus gestartet, und auch die Bundesliga zieht immer mehr Zuschauer an. Einer der (sehenden) Akteure kommt aus Nagold: Patrick Gunesch, Co-Trainer beim deutschen Rekordmeister MTV Stuttgart.

Am Spielfeldrand herrscht Mucksmäuschenstille. Zu hören ist lediglich der Ball, der über das Spielfeld surrt. Eingebaute Rasseln im Spielgerät sind die einzige Orientierungshilfe für die Blindenfußballer. Dann kommt der Moment von Patrick Gunesch. Der Nagolder ist Co-Trainer beim Bundesligisten MTV Stuttgart und zuständig für die Kommunikation. Mit seinen Zurufen dirigiert er sein Team über das Spielfeld. "Rechts!", ruft Gunesch. Als der Ball der Bande immer näher kommt, korrigiert der Nagolder sein Kommando: "Rechts rechts!" Also: noch weiter nach außen.

Blindenfußball ist für Gunesch eine völlig neue Welt, erst seit drei Monaten ist er Co-Trainer in Stuttgart. Der 26-Jährige ist nicht blind, spielt parallel sogar beim SV Gündringen in der Bezirksliga. Kicken kann er also. Mit den Blindenfußballern vom MTV Stuttgart kann er allerdings nicht mithalten. "Technisch sind die mir weit voraus", gesteht Gunesch, der sich selbst einmal die blickdichte Brille übergestreift und sich als Blindenfußballer versucht hat. "Sobald der Ball noch am Fuß ist, geht’s ja. Aber wenn der Ball weg ist, wird die Orientierung zu einem großen Problem."

Blindenfußball mag anders wirken, und dennoch, versichert Gunesch, gehe es in einer Blindenfußball-Mannschaft nicht viel anders zu als in jeder anderen Mannschaft. "Man hat die Quatschköpfe, man hat die Ehrgeizigen", lacht der Nagolder und schwärmt: "Alle sprechen über Fußball, als ob sie sehen könnten. Das ist das Faszinierende." Und: "Das ist eine große Familie. Die Blinden kennen sich untereinander wirklich alle."

Berührungsängste hat Gunesch schon allein von Berufswegen her keine. Er arbeitet bei der Lebenshilfe, die Menschen mit Behinderung und ihre Familien begleitet. Gunesch gibt im Auftrag des Landesverbands Seminare für Freiwillige und begibt sich mit ihnen immer wieder auf Exkursionen. Eine davon führte den Nagolder mit einer Gruppe Freiwilliger zu Alexander Fangmann. Er ist Kapitän der deutschen Blindenfußball-Nationalmannschaft und spielt beim MTV Stuttgart. Beim Trainingsbesuch in der Landeshauptstadt bauten Guensch und Fangmann Kontakt auf, der im Lauf der Zeit immer intensiver wurde. Als der MTV Stuttgart dann vor drei Monaten einen neuen Co-Trainer suchte, sprach der Kapitän den Kicker vom SV Gündringen an. Gunesch, der inzwischen ohnehin in Stuttgart wohnt, sagte sofort zu – und bereut seine Entscheidung nicht. "Ich kann mir gut vorstellen, das längerfristig zu machen", meint der 26-Jährige, der jetzt sogar den Trainerschein machen will.

Der Zeitpunkt dafür könnte schlechter sein, denn Blindenfußball ist in Deutschland im Kommen. Gestern startete in Berlin die erste Europameisterschaft in dieser Sportart. Das Eröffnungsspiel zwischen Deutschland und Italien in der eigens dafür gebauten Arena am Anhalter Bahnhof war mit mehr als 2000 Zuschauern nahezu ausverkauft.

Auch die Blindenfußball-Bundesliga rückt verstärkt in den Fokus. Mit dem FC Sankt Pauli, Schalke 04 und dem Chemnitzer FC sind große Namen in der höchsten Liga vertreten. Auch Borussia Dortmund ist seit dieser Saison dabei, nachdem der BVB den Blindenfußball-Bundesligisten ISC Viktoria Dortmund-Kirchderne übernommen hatte.

Es ist damit zu rechnen, dass weitere Profivereine diesen Weg einschlagen und bei Blindenfußball-Vereinen einsteigen. So wird auch der MTV Stuttgart – mit fünf Titeln wohlgemerkt deutscher Rekordmeister im Blindenfußball – immer wieder mit dem VfB Stuttgart in Verbindung gebracht. Als notwendig erachtet Gunesch eine Fusion allerdings nicht: "Die Zusammenarbeit mit dem MTV ist so gut, dass ich darin keinen Sinn sehe." Ohnehin sei das MTV-Trainingsgelände für Blinde deutlich besser zu erreichen als das VfB-Areal in Bad Cannstatt.

Dennoch: Auf Rosen gebettet sind die Blindenfußballer trotz der Unterstützung vom MTV Stuttgart nicht. Sponsoren gibt es kaum, auch Zuschauer verirren sich nur wenige zu den Spielen. Dem gegenüber stehen hohe Reisekosten, unter anderem für die Fahrt nach Hamburg zum FC Sankt Pauli. Etwas finanzielle Unterstützung kommt vom DFB über die Sepp-Herberger-Stiftung, die laut Gunesch, der für seine Co-Trainer-Tätigkeit kein Geld bekommt, aber besser sein könnte. Der Nagolder fordert daher: "Der DFB muss mehr machen." Das restliche Budget steuert der MTV als Stammverein bei – mit rund 8700 Mitgliedern immerhin der zweitgrößte Verein der Landeshauptstadt; noch vor den Stuttgarter Kickers.

Und dennoch: Es geht aufwärts mit dem Blindenfußball, der sich mit seinen zentral organisierten Spieltagen immer mehr in die Öffentlichkeit wagt. Der erste Spieltag, der am Tag des DFB-Pokal-Finales in Berlin stattfand, wurde direkt am Olympiastadion ausgetragen, was den Blindenfußballern viel Laufkundschaft bescherrte. Auch der Heimspieltag des MTV Stuttgart soll in der kommenden Saison nicht mehr auf dem abgelegenen Sportgelände am Kräherwald stattfinden, sondern in der Stuttgarter Innenstadt – etwa auf dem Schlossplatz. Allerdings bringt das auch störende Nebengeräusch mit sich, schließlich lebt Blindenfußball von der Akustik. "Es sollte wie beim Tennis sein: Während der Ballwechsel herrscht Stille und danach kann man dann klatschen", meint Gunesch, der sich aber trotzdem über eine große Zuschauerkulisse freuen würde: "Ich denke, dass die Spieler für das, was sie leisten, viel zu wenig Anerkennung bekommen. Man darf nicht vergessen: Blind werden kann jeden ganz plötzlich treffen."

Was die Blindenfußballer alles auf dem Kasten haben, werden sie noch bis zum 27. August bei der Europameisterschaft in Berlin beweisen. Gunesch kann leider nicht dabei sein, schaut sich die Spiele jedoch im Live-Stream an und meint in Bezug auf das große Zuschauerinteresse: "Hoffentlich geht es so weiter." Das große Highlight steht für ihn dann am 9. September mit dem Bundesliga-Finale in Halle an. Im Blindenfußball findet nach den vier zentral ausgetragenen Spieltagen noch ein Platzierungsturnier statt. Der MTV Stuttgart spielt um Platz fünf, Gegner ist Borussia Dortmund. "In diesem Jahr hatten wir in der Mannschaft einen großen Umbruch", zeigt Gunesch auf, warum es für den Rekordmeister in dieser Saison nicht um den Titel geht.

Danach heißt es: warten. Rund acht Monate dauert die Winterpause im Blindenfußball. Für den Nagolder ist klar, dass er auch in der Saison 2018 wieder beim MTV an der Bande stehen wird und die Kommandos gibt. Und der SV Gündringen? Den versuche Gunesch so gut wie möglich mit unter den Hut zu bekommen, auch wenn das bei zwei- bis dreimal pro Woche Training in Stuttgart immer schwieriger werde. Für wen er sich im Zweifel entscheidet? Gunesch grinst: "Wahrscheinlich für den MTV."