So übersichtlich sieht der Tisch nur aus, wenn Besuch da ist. Einsam fühlt sich Ruth Dörschel dennoch nicht in ihrer Enklave unterm Dach. Zu viele spannende Begleiter sind bei ihr. Etwa der geheimnisvolle Bergmann aus Wittichen. Fotos: Eberhardt Foto: Schwarzwälder-Bote

Ruth Dörschel ist die Fachfrau für Architektur beim Stadtarchiv / Schon ihr Arbeitsplatz ist ein kleines Museum

Von Tina Eberhardt

Freudenstadt. Archivare? Das sind doch die, die man irgendwann im Keller hinterm Aktenregal vergessen hat? Von wegen. Archivare sind Detektive zwischen den Zeiten und machen als solche einen ziemlich spannenden Job – so wie Ruth Dörschel.

Natürlich, den Keller gibt es auch, erklärt Archivarin Ruth Dörschel. Dort lagert das Verwaltungsgedächtnis der Stadt. Dörschel selbst ist studierte Architektin und eine für die Branche typische Quereinsteigerin. Zum Archiv kam sie, als es vor zehn Jahren an die Konzeption der Wiederaufbau-Ausstellung ging. Rund 3000 Baupläne gibt es in Freudenstadt allein aus dieser Zeit – ein seltenes Vermächtnis, das sorgfältig in sogenannten Findbüchern katalogisiert wurde. Da schien es sinnvoll, eine Fachfrau aus dem Bereich Architektur ins Team zu holen.

Was aber macht ein Archivar außer Listen zu verfassen? Archivare sind unermüdliche Spürnasen und Puzzletalente, die einzelne Gegenstände, Schriftstücke und Überlieferungen so lange untersuchen, bis dahinter ein lebendiges Bild der Vergangenheit entsteht. Ruth Dörschel würde das Stellenprofil so umschreiben: Interesse an Geschichte und alten Gegenständen aber versiert im Umgang mit neuester Computertechnologie. Man darf keine Angst vor Schmutz haben, sollte eine gehörige Portion Detektivlust mitbringen, strukturiert arbeiten können, teamfähig und bestens vernetzt in die Archive der Nachbar- und Teilorte sein, die beim Forschen in der Geschichte unverzichtbare Partner sind.

"In der Ausbildungszeit hätte ich mir den Beruf nicht ausgesucht, er schien mir zu trocken", gibt Ruth Dörschel lächelnd zu. Wer heute in ihr Büro kommt, kann sich das kaum vorstellen. Trocken und langweilig? Das sieht anders aus. Wer vom Rathausturm ins Archiv tritt, findet zunächst noch ordentliche Bibliotheksregale. Um mehrere Ecken und durch ein paar ziemlich kleine Türen kommt man auf den Dachboden des Rathauses, dann öffnet sich die Tür in Ruth Dörschels Reich, und der Besucher ist einer anderen Welt. Aus einer chaotischen wirkenden Sammlung von Pappkartons und Dokumentenmappen ragt ein alter Säbel. An der Wand, neben einem liebevoll gestalteten Fotokalender, lagert ein Stapel Hellebarden. Dazwischen liegt eine Rolle, deren Fransen eine Fahne erahnen lassen, flankiert wird alles von diversen Akten- und Schubladenschränken, irgendwo dahinter kommt Ruth Dörschels Schreibtisch.

Ihr Büro ist gleichzeitig Museums-Depot. Wer dort tätig ist, darf kein Bedürfnis nach einem Feng-Shui gerecht eingerichteten Arbeitsplatz haben. Doch in dem scheinbaren Chaos zeigen sich überall Fotos und Zettel mit Nummern und Bezeichnungen, die auf Aktenordner verweisen. Binnen zweier Minuten kann Ruth Dörschel zu jedem Objekt ein Datenblatt präsentieren, auf dem alles Bekannte verzeichnet ist. Diese Akkuratesse ist wichtig, um die vier Kernaufgaben des Archivars zu erfüllen. Die erste ist die Beantwortung von Anfragen von Bürgern, Firmen oder anderen Institutionen. "Meist finden wir ganz passable Antworten", meint Ruth Dörschel humorvoll. In Bonn etwa wird derzeit eine Medien-Ausstellung vorbereitet, für die Dörschel Leih-Materialien aus der Kampagne gegen das Waldsterben zusammenstellt, die in den 80er-Jahren Freudenstadt aufrüttelte. Dann gilt es, Eingänge zu archivieren – Nachlässe, die an das Museum gehen, Verwaltungsbestände und anderes.

Ein wichtiger Teil der Arbeit besteht mittlerweile darin, die Archivbestände ins digitale Zeitalter zu überführen. "Das kann vor allem für medienbegeisterte junge Menschen interessant sein", meint Dörschel. Und schließlich gibt es den Höhepunkt, wenn nach Monaten und Jahren Detektivarbeit eine neue Ausstellung entsteht. Etwa die aktuelle zum Ersten Weltkrieg im Stadthaus.

Die prickelnde Entdeckerlust aus deren Vorbereitung ist Ruth Dörschel noch gut im Gedächtnis. "Da tauchten plötzlich Facetten von Persönlichkeiten auf, die man gar nicht kannte." Etwa bei einem städtischen Hotelier, von dem nur wenige wussten, dass er auch ein begeisterter Hauptmann war. Oder beim Sohn einer Baiersbronner Heilerfamilie: "Warum ging der mit 42 noch zum Militär?", fragt sich Dörschl. Manche Geschichte, die im Archiv rekonstruiert wird, hat das Zeug zum Kriminalroman. Manchmal bleibt die Suche aber auch stecken. Etwa bei einer Statue, die in zurückhaltender Eleganz auf den Kistenstapeln thront. Auf dem Sockel steht "Bergmann aus Wittichen", und er ist Ruth Dörschels besonderer Liebling. Aber wo kommt er her? Schnitztechnik und Stil entsprechen nicht den hiesigen Traditionen, sondern erinnern ans Erzgebirge. Wurde er vor Jahrhunderten von einem Händler mitgebracht? Irgendwann wird er sein Geheimnis preisgeben: Manchmal muss man einfach geduldig warten können.