Griff an den Kragen abgewehrt: Erzieherin Melanie wendet die Technik an, die ihr Krav-Maga-Profi Luka Imhof gerade gezeigt hat. Foto: Rath

Selbstverteidigung: Kursteilnehmer wie Lehrer und Richter rüsten sich mit Krav Maga. Eine Reportage

Kreis Freudenstadt - "Nicht so steif im Knie, lockerer." Melanie Faßnacht atmet noch mal durch, dann legt sie ihrem Trainingspartner wieder die Hand auf den Unterarm. Neuer Versuch. Raum R10 auf Ebene zwei im Kreishaus Freudenstadt könnte auch ein Tanzstudio sein. Eine Wand ist ein einziger großer Spiegel. Aber heute wird nicht getanzt in R10, im Gegenteil.

Die 22-jährige Erzieherin aus Horb lernt, was sie tun kann, wenn sie in der Disko richtig dumm angemacht wird. Selbstverteidigung nach dem System von Krav Maga wird in den folgenden sechs Stunden gelehrt, im Auftrag der Kreisvolkshochschule Freudenstadt.

Instruktor Luka Imhof zeigt ihr gerade, wie man seinem Gegner so in die Weichteile tritt, dass er außer Gefecht ist. Melanie Faßnacht holt noch mal aus mit dem Fuß. Bamm! Der Trainer fängt den Tritt zwischen seinen Knien mit den Händen ab. Er ist zufrieden: "Sehr gut. Gleich noch mal."

Selbst Lehrer und Richter melden sich für Kurse an

Rund zehn Frauen und Männer zwischen 18 und 43 Jahren sind heute im Seminar. Ausnahmsweise sei der Kurs mal nicht ausgebucht, sagt Imhof. Die Bandbreite der Teilnehmer, die sich zum Auftakt kurz vorstellen, ist dennoch die übliche: Schüler, Hausfrauen, zwei Rechtsanwälte, denen schon aufbrausende Klienten in der eigenen Kanzlei Kummer gemacht haben oder denen es beim Besuch eines Mandanten im Gefängnis plötzlich nicht mehr so wohl war.

Und die Erzieherin, die gerne alleine zum Joggen geht. Imhof sagt, selbst Richter kämen in seine Kurse, wenn ihnen Straftäter auflauern, denen ihr Urteil nicht gepasst hat. Und Lehrer. Ob Hausfrau oder Akademiker – heute stehen sie in einer Reihe da in Sportklamotten und Turnschuhen. Was sie sonst noch verbindet: Sie sind zwar alle noch nicht Opfer von brutaler Gewalt geworden. Sie wollen es aber auch nicht werden.

Imhof sagt, es gebe heutzutage nicht mehr Gewalt als früher, eher weniger. Freudenstadt sei ein sicheres Städtchen, der Großraum Stuttgart, wo der Krav-Maga-Trainer wohnt und seine Schule hat, übrigens auch. Aber trotzdem liefen überall "defekte Typen" herum, die den Leuten auf offener Straße Geldbeutel oder Handy abnehmen oder sie einfach zusammenprügeln – ohne Vorwarnung, im Vorbeigehen, scheinbar grundlos und mit äußerster Brutalität. Das sei "Realität", sagt Imhof, "eine gefährliche Situation kann jederzeit kommen".

Zum Auftakt zeigt er kurze Videos. Sie stammen aus Überwachungskameras. Was zu sehen ist, lässt einen erschauern. Auf einer Sequenz schlägt ein Rudel junger Männer einen Passanten in der U-Bahn-Station zusammen. Sie treten selbst dann noch mit den Schuhen auf den Kopf des Opfers ein, als dieses schon am Boden liegt und sich nicht mehr rührt.

Dann hauen sie ab. Die Kursgruppe schaut sich die verwackelten Szenen schweigend an. Für Imhof sind sie interessant. "Wie geht es Euch jetzt? Und was fällt auf?", fragt er in die Runde. Es kommt nicht viel zurück. "Wenn es passiert, dann geht es schnell. Und alle Opfer auf den Videos haben Fehler gemacht." Sie hätten die Gefahr schon im Vorfeld erkennen und reagieren können. Haben sie aber nicht. Oder falsch. "Die meisten Menschen sind nicht aufmerksam auf der Straße", erklärt der Trainer. Sie sind geistig abwesend, haben Kopfhörer auf den Ohren oder daddeln auf dem Smartphone herum. Ideale Opfer. Ein Angreifer erkenne sie auf den ersten Blick.

Luka Imhof ist das komplette Gegenteil: 39 Jahre alt, mit vielleicht 1,75 Metern nicht sonderlich groß und auf den ersten Blick eher unauffällig, raspelkurzes braunes Haar mit ausgeprägten Geheimratsecken, aber ein breites Kreuz unterm schwarzen Sweatshirt mit der Aufschrift "Instructor". Wenn er es abstreift, spannen sich die Muskeln seiner tätowierten Arme an. Sein rollendes "R" lässt auf osteuropäische Herkunft schließen.

Er drückt sich gewählt aus, kennt aber auch die Sprache der Straße. Es wird viel gelacht. Seit rund 25 Jahren praktiziert er Krav Maga, war viele Jahre Personenschützer. Heute schult er Soldaten der Bundeswehr im Nahkampf, Polizisten und Sondereinsatz-Kommandos sowie Laien. Der Mann ist gefragt, gibt Kurse im ganzen Land.

Direkt nach der Silvesternacht von Köln ging die Teilnehmerzahl in seinen Kursen noch einmal gewaltig nach oben. Wenn er spricht, dann laut und deutlich. Sein Oberkörper ist seinem Gegenüber stets zugewandt, im Gegensatz zu seinen Schülern lässt er seine Arme nie mit schlaffen Schultern nach unten hängen. Die Hände bewegen sich stets oberhalb der Gürtellinie. Immer abwehrbereit? Er lächelt: "Haben mich andere auch schon gefragt. Scheint was dran zu sein."

Nach dem Theorieblock bildet der Instruktor die Paare für die Zweikampfübungen. "Es könnte blaue Flecken geben", kündigt er an. Die Teilnehmer legen Schmuck und Uhren ab. Krav Maga ist kein Kampfsport, sondern für die "Realität", wie er es nennt. Sport bedeute Regeln, Fairness, Schiedsrichter und vorbereitete Athleten. "Auf der Straße gibt es keinen Runden-Gong und keine Gewichtsklassen. Ende ist erst, wenn einer k.o. geht." Krav Maga tue deshalb weh, sei technisch "weder Bruce-Lee-mäßig noch sexy". Krav Maga ist schnell, kurz, hart, explosiv. Mit einem Wort: effektiv.

Überraschend wie ein Angriff ist auch, was Imhof seinen Kursteilnehmern einbläut: Krav Maga setzt zwar in erster Linie auf Gefahrenerkennung, Deeskalation, Flucht und Abwehr. "Aber die Zeit für Deeskalation beträgt maximal 20 Sekunden. Danach kracht’s." Und wenn es kracht, sollen seine Kursteilnehmer kein Erbarmen mehr kennen: So lange zutreten oder zuschlagen, bis der Gegner entweder flüchtet oder ohnmächtig am Boden liegt – mit dem Fuß, mit der Faust, mit der flachen Hand, mit dem Knie, mit dem Ellbogen. Egal. Hauptsache, es tut weh. "Bamm, bamm, bamm", sagt Imhof, und die rechte Faust klatscht dabei jedes mal in die linke Hand.

Entschlossenheit schreckt Täter oft schon ab

Mindestens drei Mal zuschlagen, mit aller Härte, zur Sicherheit, damit man die empfindliche Stelle wie die Kiefermuskeln, Hals oder die Weichteile auf jeden Fall getroffen habe. Nichts sei gefährlicher als ein nicht k.o.-gegangener Angreifer. Wenn es erst mal so weit sei, gebe es ohnehin nur noch eine Frage: Wer kommt ins Krankenhaus? Er oder ich? Gewissensprobleme hat Imhof damit nicht: Mit Drogen oder Adrenalin vollgepumpte "Psychos" stünden komplett neben sich, seien "nicht mehr sie selbst".

Notwehr sei im Gesetz ausdrücklich erlaubt. Ob die Grenze der Verhältnismäßigkeit überschritten sei, könne später geklärt werden. "Die Vernehmung kommt so oder so, es gibt immer Konsequenzen. Die Frage ist, ob gesund im Polizeipräsidium oder schwer verletzt im Klinikbett." Die Kindergarten-Erzieherin und der Anwalt schlucken.

Imhof rüttelt damit am Werte-Gerüst und der Erziehung seiner heutigen Kundschaft, der bürgerlichen Mittelschicht. Es sei zwar grundsätzlich besser, jedem Streit aus dem Wege zu gehen. Aber es gebe nun mal genug Leute "da draußen", die auf den Spruch "Gewalt ist keine Lösung" pfeifen. Eine von Imhofs Überzeugungen: "Es heißt: Der Klügere gibt nach. Das stimmt nicht in jedem Fall." Wo Angst herrsche, deutete er an, erhielten die Aggressiven erst Macht. So komme es, dass Opfer auf offener Straße verprügelt würden, und keiner greife ein, obwohl Passanten zuschauen. Teilnahmslos wie Kühe. Auf einem Video ist das zu sehen.

Zur Gewalt müsse es ja auch nicht immer kommen. Was den meisten Leuten heute fehle, sei überhaupt schon die Bereitschaft, sich zu wehren. In manchen Situationen komme man aber mit Beschwichtigungen, Sozialkompetenz und Vernunft nicht weiter, sondern stachele Angreifer noch zusätzlich an. Immer nur klein beizugeben, nage außerdem am eigenen Ego.

Wer absichtlich angerempelt werde, könne sich auch ohne Schläge einen Pöbler vom Hals halten – in dem man Entschlossenheit zeige und sein Gegenüber richtig laut anfahre. "Das reicht oft schon", sagt Imhof, "dabei müssen aber Körpersprache, Stimme und Mimik stimmen." Er zeigt den Kursteilnehmern grimmig die Zähne. Alle lachen. Seine Arme sind dabei abwehrbereit auf Kopfhöhe nach vorne ausgestreckt – der eine ganz, der andere leicht angewinkelt. Das ist die Abwehrhaltung, aus der auch in einer Sekunde ein Gegenangriff erfolgen kann. So hält man einen Angreifer auf Distanz, kann sehen, was er macht, reagieren und signalisiert ihm: Nicht mit mir!

Stufe zwei: Imhof zeigt der Gruppe Techniken, wie man sich zunächst gewaltfrei aus Klammergriffen befreien kann, wenn man am Kragen oder an den Händen gepackt wird, von vorne oder ohne Warnung von hinten, wie es die "dreckigen Typen" gerne machten. Der Anwalt wirkt ein wenig ungelenk, reißt sich aber von mal zu mal mutiger los. "Sehr gut", lobt Imhof.

Nach 90 Minuten ist Pause. Melanie Faßnacht setzt sich auf die lange Bank, holt die Mineralwasser-Flasche aus ihrer Tasche und nimmt einen großen Schluck. Krav Maga mag vom Selbstverständnis kein Sport sein, aber ins Schwitzen kommt man trotzdem, obwohl es kalt ist im Raum. Zehn Minuten, dann geht es weiter. Die 22-Jährige schnürt die Turnschuhe fester zu. Geht sie künftig entspannter zum Joggen? Sie überlegt kurz. "Hm, ich denke schon", sagt sie.

Lu ka Imhof schwitzt offensichtlich überhaupt nicht. Gleich kommt Stufe drei. Dann zeigt er der Gruppe, wo und wie man hintritt und -schlägt, um einen Gegner matt zu setzen. "Das wird noch mal interessant", verspricht er. Können seine Schützlinge sich künftig wehren? Grundsätzlich schon. Einen Gegner k.o. zu schlagen, auch einen viel größeren, sei kein Problem, auch nicht für Frauen.

Die Kraft eines zehnjährigen Kindes reiche theoretisch aus, um einen 100-Kilo-Bullen "wegzumachen", etwa mit einer Ohrfeige mit der flachen Hand auf den Kiefer. Man muss nur wissen, wo es wehtut. "Krav Maga muss man regelmäßig üben", sagt Imhof, "heute geht hier sicher keiner als Rambo raus." Ohnehin sei jeder nicht geführte Kampf von vorne herein ein gewonnener Kampf. Seine Botschaft ist eine andere: Die Kursteilnehmer sollen selbst- und verantwortungsbewusster werden, nachdenken über grundsätzliche Fragen, denen sich seiner Meinung nach jeder stellen sollte: Was wäre wenn?

Krav Maga bedeutet, wachsam und vorbereitet zu sein, auch mental. "Die Entscheidung, ob ich flüchte oder zuschlage, muss schon getroffen sein, bevor die Situation eskaliert", sagt der Profi. Wichtig sei, entscheidungsfähig zu sein. Entschlossen. Das prägt auch die eigene Ausstrahlung. "Wenn Du denkst, jetzt krieg’ ich Prügel, dann kriegst du Prügel."

Seite 2: Verhaltenstipps von Luka Imhof 

Messer oder Pfefferspray nützen in der Selbstverteidigung nichts. Um sich damit wehren zu können, müsste man das Spray schon vor dem Angriff in der Hand haben. Auch Kampfsport wie Karate hilft im Straßenkampf wenig.

 Lieber ein bisschen paranoid sein als allzu sorglos. Gefährliche Situationen lassen sich oft im Vorfeld erkennen.

 Wer mit einem Messer bedroht wird: Geldbeutel oder Handy hergeben, nicht auf den Kampf ankommen lassen.

 Das Auto in der Tiefgarage nicht schon aus 20 Metern mit der Fernbedienung öffnen; das gibt auch einem potenziellen Angreifer Zeit, in den Wagen einzusteigen.

 Niemand nach einem vermeintlich geklärten Disput die Hand geben, der könnte wieder zuschlagen.

 Von Fremden keine Getränke annehmen, man weiß nie, ob sie K.o.-Tropfen enthalten. Außerdem kann ein Mann bereits die Annahme eines Drinks als Interesse an ihm werten. Nicht jeder akzeptiert einen Korb.

 Wenn Gefahr droht, lieber die Straßenseite wechseln.

 Wenn einen jemand mit dem Messer zum Einsteigen in ein Auto zwingen will, einen Kampf riskieren. Es besteht ohnehin Gefahr für Leib und Leben. Denn wer jemand von einem Ort weg lotsen will, hat meist mit der Person etwas vor, dass er sich hier nicht trauen würde.

Info: Krav Maga

Krav Maga ist ein Selbstverteidigungssystem und stammt aus Israel. Es heißt übersetzt "Kontaktkampf". Krav Maga setzt auf natürliche Reflexe und gilt aufgrund der vergleichsweise einfachen Techniken als leicht erlernbar und effektiv. Es umfasst eine psychische Situationsschulung sowie Abwehr-, Box-, Tritt-, Ellenbogen- und Knietechniken, Schock- und Hebeltechniken sowie Bodenkampf. Bis in die 90er-Jahre war es dem Militär vorbehalten. Heute gibt es drei Hauptanwendungsgebiete mit jeweils passenden Techniken: Militär (Nahkampf), Polizei und Sicherheitsbereiche sowie privat zur Selbstverteidigung.