Barzan Ramo (25) aus Syrien will in Europa sein Chemie-Studium beenden Foto: Guhlich

Als Grenzland spürt Bulgarien die Mitgliedschaft in der Europäischen Union mit voller Wucht: Bulgarien ist verpflichtet, Tausende von syrischen Flüchtlingen aufzunehmen, für die es weder Betten noch Geld hat. Die anstehende Europawahl bremst Hilfsprogramme aus.

Sofia - Es war gegen 3 Uhr morgens, als ein Teil der Flüchtlinge die Nerven verlor. Sie sahen die Scheinwerfer der Polizeiautos im dunklen Wald vor der türkisch-bulgarischen Grenze, hörten Männerstimmen. „Einige von unserer Gruppe rannten zurück in Richtung Türkei“, sagt Barzan Ramo (25) aus Al Qamishli, Syrien. „Meine Tante, mein Onkel, ich und zwei Kinder versteckten uns hinter den Bäumen und warteten.“

300 Euro musste jeder der Flüchtlinge den Menschenschmugglern dafür zahlen, dass sie nun allein im Wald vor der Grenze bei der türkischen Stadt Edirne saßen. So viel Geld bringen viele Syrer nur einmal auf. Wie Barzan Ramo sind seit Anfang 2013 Tausende Flüchtlinge mit der Hilfe von Menschenschmugglern nach Bulgarien gekommen. Insgesamt haben 2013 über 11 000 Menschen die Grenze überquert. Als Mitgliedsland in der Europäischen Union ist Bulgarien verpflichtet, die Flüchtlinge aufzunehmen.

Doch mit der Flut an Menschen, die Hilfe suchen, ist das Land völlig überfordert. Seit Januar gibt Bulgarien den Flüchtlingen zunehmend einen Status, der es ihnen ermöglicht, in den Westen zu reisen.

Am Stadtrand von Sofia sitzt Vassil Vassilev Varbanov in seinem braun getäfelten Büro – und fühlt sich schlecht behandelt. Varbanov ist Vizepräsident der staatlichen Agentur für Flüchtlinge in Bulgarien. Die Behörde kümmert sich um die formelle Anerkennung der Flüchtlinge.

Gemäß der Dublin-III-Verordnung ist in der EU jenes Land für die Bearbeitung von Asylanträgen zuständig, in das ein Flüchtling als Erstes einreist. Als Grenzland steht Bulgarien also vor einem enormen bürokratischen Aufwand, seit Flüchtlinge aus Syrien nicht mehr abgeschoben werden.

Bulgarische Politiker sind enttäuscht über die Kritik aus dem Westen

Varbanov ist enttäuscht, weil Politiker und Hilfsorganisationen aus Westeuropa seit Monaten den Umgang Bulgariens mit den Flüchtlingen kritisieren: Die Lager sind überfüllt, die medizinische Versorgung ist mangelhaft, die Prozeduren, um den Flüchtlingen einen Aufenthaltsstatus zu geben, dauern ewig. Bulgarien war auf die Masse an Flüchtlingen nicht vorbereitet: In den Jahren zwischen 2003 und 2012 hat Bulgarien pro Jahr rund 1000 Asylanträge gezählt. Im Jahr 2013 ist diese Zahl auf 7144 hochgeschnellt. „Wir hatten nur Plätze für 1200 Asylbewerber“, sagt Varbanov.

Seit der Nacht im Wald weiß Barzan Ramo, was Verantwortung ist. In der Gruppe, mit der er geflohen ist, war er der Einzige, der Englisch spricht. Er war die Kontaktperson zu den Menschenschmugglern. Ausgangspunkt der Flucht war Istanbul. Von dort aus hatte ein Schlepper die Menschen in einem kleinen Bus an den Waldrand transportiert.

Dort wartete ein weiterer Schmuggler. Etwa eine Stunde lang führte er die Flüchtlinge durch den Wald. Dann ließ er sie mit den Worten allein: „Wenn ihr jetzt immer geradeaus geht, erreicht ihr irgendwann die bulgarische Grenze.“ Wegen Menschen wie Ramo hat Bulgarien an einer besonders schwer zu überwachenden Stelle an der Grenze einen Zaun gebaut. Organisationen wie Human Rights Watch kritisieren, dass Bulgarien mit einem Eingrenzungsplan versuche, die Flut illegaler Einwanderer zu stoppen. „Wir halten hier die Stellung an der Grenze“, sagt Varbanov. Die meisten Flüchtlinge geben als Ziel an: „Deutschland“.

Doch der Weg ist lang. Um 12 Uhr mittags erreichten Barzan Ramo und seine Gruppe nach zehn Stunden Marsch einen Ort jenseits der bulgarischen Grenze. Dort stellten sie sich der Polizei. Sie landeten in Harmanli, einem Lager für illegale Einwanderer 300 Kilometer südöstlich der bulgarischen Hauptstadt Sofia. „Das Lager war völlig überfüllt“, sagt Ramo. „Wir hatten keine Elektrizität, kein warmes Wasser und keine Medikamente für die kranken Kinder.“

Bulgarien gilt als das Armenhaus Europas

Bulgarien gilt als das Armenhaus Europas. Das Bruttoinlandsprodukt liegt bei 37,2 Milliarden Euro. Der Durchschnittslohn beträgt rund 300 Euro. Die Arbeitslosenquote liegt bei über 13 Prozent, jeder dritte junge Erwerbstätige sucht einen Job.

Weil sie keine Zukunft in ihrem Land sehen, sind in den vergangenen Jahren immer mehr Bulgaren in den Westen gezogen. 1985 lebten in Bulgarien noch neun Millionen Menschen. 2012 waren es nur noch 7,3 Millionen. Die Entwicklung setzt sich fort – zumal für Bulgaren seit 2014 der freie Zugang zum EU-weiten Arbeitsmarkt gilt. „Bulgarien entwickelt sich also zunehmend zu einem Transitland“, sagt Regine Schubert von der Friedrich-Ebert-Stiftung in Sofia. Längst schlagen Kritiker in Deutschland Alarm, weil sie befürchten, die Bulgaren wären vor allem auf die deutschen Sozialhilfe-Leistungen aus.

Die Sozialhilfe in Bulgarien liegt bei rund 33 Euro im Monat. Das ist auch die Summe, mit der die syrischen Flüchtlinge klarkommen müssen. Westliche Politiker kritisieren das. „Aber wir können den Flüchtlingen nicht mehr geben, als wir den Bulgaren geben“, sagt Varbanov. Die Stimmung gegenüber den Flüchtlingen ist schon jetzt angespannt. Das sei auch der Grund, warum Bulgarien bei Programmen zur Integration von Flüchtlingen nicht vorankommt.

Denn das ist das große Problem, sagt Varbanov: „Die syrischen Flüchtlinge können nur sechs Monate im Camp bleiben. Doch wohin gehen sie danach?“ Seiner Ansicht nach lähmt die Europawahl die Integration der syrischen Männer und Frauen. „Wenn wir vor der Wahl ein Programm auf den Weg bringen würden, würde das nur die Nationalisten stärken.“

Barzan Ramo hat es inzwischen in die Hauptstadt Sofia verschlagen. Er hat einem Rechtsanwalt 100 Euro gezahlt und eine einzige Bedingung gestellt: „Bring mich raus aus Harmanli.“ Jetzt sitzt er in einem Lager namens Voenna Rampa an einem Tisch und rauft sich die Haare. Neben dem fehlenden Integrationsprogramm sieht er noch ein anderes Problem: „Sobald wir in Bulgarien als Flüchtlinge anerkannt werden, wird uns auch noch die Sozialhilfe von 33 Euro gestrichen.“

Situation in Flüchtlingslagern entspann sich, weil immer mehr in den Westen gehen

Voenna Rampa ist ein ehemaliges Schulgebäude. Unterricht findet dort längst nicht mehr statt, weil das Gebäude zu baufällig ist. In der Turnhalle haben sich Familien aus Tüchern notdürftige Zelte gebaut. Um die 700 Flüchtlinge können dort unterkommen. „In den Hochzeiten waren wir über 800“, sagt Ramo. „Inzwischen hat sich die Lage etwas entspannt.“ Viele Flüchtlinge brechen in Richtung Westen auf. „Erst am Sonntag ist eine Familie mit einem gemieteten Auto nach Deutschland gefahren“, sagt Ramo. Möglich macht dies, dass die bulgarische Regierung den Flüchtlingen zunehmend einen Status gewährt, der ihnen erlaubt, innerhalb des Schengen-Raums zu reisen. Während im gesamten Jahr 2013 nur 183 von 7144 Flüchtlingen diesen Status bekommen haben, sind es seit Anfang 2014 bisher 1497 von 2031 Flüchtlingen. Das ist ein Anstieg von über 700 Prozent.

Die Gründe für die Entwicklung wollen deutsche Behörden nicht kommentieren. Die bulgarische Regierung weicht aus. Der Anstieg läge vor allem daran, dass mehr Flüchtlinge diesen Status verlangen würden, sagt Varbanov. Dabei ist er kein Freifahrtschein. Doch viele Flüchtlinge hoffen, dass sie etwa über ihre Verwandten in einem anderen Land Fuß fassen können. „Sie wollen einfach nur weg aus Bulgarien“, sagt Ramo.

Er selbst hat nur ein Ziel: Er will sein Chemiestudium beenden. Bis zu seinem Abschluss fehlten ihm in Syrien nur noch wenige Prüfungen. Doch dann kam der Krieg.