Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier will Deutschland zum Impulsgeber für eine gemeinsame europäische Außenpolitik machen. Foto: dpa

Unversehens ist der deutsche Außenminister zu einer Schlüsselfigur in der Ukraine-Krise geworden. Den Russen gilt er als einzig akzeptabler Gesprächspartner. Die USA lassen ihn gewähren – für kurze Zeit.

Unversehens ist der deutsche Außenminister zu einer Schlüsselfigur in der Ukraine-Krise geworden. Den Russen gilt er als einzig akzeptabler Gesprächspartner. Die USA lassen ihn gewähren – für kurze Zeit.

Berlin - Es ist „die Stunde der Diplomatie“, sagt Frank-Walter Steinmeier, der deutsche Außenminister von der SPD. Es ist auch seine Stunde. Das Schicksal der Ukraine steht auf dem Spiel. Und auf dem Spiel steht auch das Schicksal eines Politikkonzepts. Es ist Steinmeiers Politikkonzept.

„Politikfähig bleiben“ – das ist das Mantra des neuen, alten Chefs im Außenamt. Soll heißen: Man muss Spielräume haben, immer reden können. Wer redet, schießt nicht. Aber wer Sanktionen verhängt, redet nicht. Steinmeier will aber reden. Seit Anfang der Woche pendelt er zwischen Brüssel, Genf und Berlin, um Wege auszuloten, Russland von militärischer Gewalt auf der Krim und darüber hinaus abzuhalten. Aber auch, um die USA davon abzuhalten, die Russen in die Enge zu treiben – etwa durch Wirtschaftssanktionen.

Als Steinmeier, der schon in der ersten Großen Koalition unter Kanzlerin Angela Merkel (CDU) Außenminister war, ins Amt zurückkehrte, setzte er sofort ein Ausrufezeichen: Deutschland sei „zu groß, um Weltpolitik nur von der Außenlinie zu kommentieren“, sagte er auf der Münchner Sicherheitskonferenz, also auf höchster internationaler Ebene. „Wir erkennen unsere Verantwortung an“, fügte er hinzu. Deutschland werde „Impulsgeber sein für eine gemeinsame europäische Außenpolitik“.

Die Nagelprobe kommt schneller als erwartet, schneller als gewünscht. Tatsächlich ist Deutschland im Ukraine-Konflikt unverhofft in eine Schlüsselposition geraten. Wer sollte sonst mit den Russen reden? Die osteuropäischen Staaten in der EU, wie Polen oder Tschechien, trauen den Russen keinen Schritt über den Weg. Die Amerikaner haben traditionell keinen großen Glauben an die bloße Kraft der Worte. Außerdem stehen sie in Moskau unter dem Generalverdacht, Russland schaden zu wollen. Die Deutschen haben sich unter der Kanzlerschaft Angela Merkels immerhin als nimmermüder Ansprechpartner erwiesen. Also lassen alle Steinmeier gewähren. Für kurze Zeit. Aber er muss liefern. Schnell.

Heute geht es beim EU-Rat der Staatschefs auch um Sanktionen, für den Fall, dass Moskau nicht einlenkt, sichtbare Zeichen setzt, um den drohenden Großkonflikt zu entschärfen. Es gibt erste, kleine Erfolge. An die müssen sich nun alle Hoffnungen knüpfen. Immerhin hat Moskau zwei Steinmeier-Ideen zugestimmt: Ein Beobachter-Team der OSZE darf sich in der Ukraine, vermutlich auch auf der Krim, ein genaues Bild der Lage machen. Und eine internationale Kontaktgruppe, zu der auch die EU und die Vereinigten Staaten gehören sollen, könnte sich bald treffen. Im Rahmen dieser Kontaktgruppe könnte es dann auch – gesichtswahrend – Gespräche zwischen Russen und der neuen ukrainischen Regierung geben, die Moskau freilich nicht anerkennt. Steinmeier-Diplomatie in Reinkultur: Foren schaffen, Gesprächsfäden anknüpfen – nur reden schafft Vertrauen.

Der deutsche Chefdiplomat geht ein hohes Risiko ein: Scheitert sein Kurs der Vermittlung, dann ist nicht nur sein selbstbewusst formuliertes Politikkonzept gescheitert, dann stünde er – kaum in Amt – schon auf dauerhaft verlorenem Posten. Dann würden die Hardliner in Washington und Moskau ihr altes Spiel spielen, und Steinmeier wäre blamiert, als diplomatisches Weichei der Lächerlichkeit preisgegeben.

Eigentlich hat er keinerlei Anlass, auf Moskaus Einsicht zu hoffen. Das müsste ihn die Erfahrung lehren. Im Frühjahr 2008 offerierte Russland in einer großen Rede in der Universität von Jekatarinburg eine „Modernisierungspartnerschaft“, also Hilfe bei Reformen und Demokratisierung – und vor allem das Ende aller Konfrontation. Ein Vierteljahr später standen sowjetische Panzer in Georgiens Hauptstadt. Wie ein spätes Echo musste es ihm vorkommen, dass Russland nun Soldaten auf die Krim entsandt hat, was den großen Verhandlungserfolg der Außenminister Frankreichs, Polens und Deutschlands völlig entwertet, die einen Friedensplan ausarbeiteten, der heute schon nur noch eine historische Fußnote ist.

Ist Deutschland wirklich groß genug für die Weltpolitik? Wie groß es wirklich ist, hat Steinmeier bei seinem Antrittsbesuch in Washington erfahren müssen. Sicher, Außenminister John Kerry sparte nicht an schönsten Worten für seinen „old friend Frank-Walter“ (deutsch: alter Freund Frank-Walter). Er gewährte ihm ein demonstrativ langes Mittagessen und viele prächtige Fernsehbilder. Aber eine amerikanische Entschuldigung für die Bespitzelung der Bundeskanzlerin oder gar ein Anti-Spionage-Abkommen? „No way!“ (deutsch: Auf keinen Fall!)

Aber eine der Kerntugenden Steinmeiers ist Beharrlichkeit. Er glaubt fest an die mühselige Verhandlungsdiplomatie, an den Fortschritt durch Gespräche. In den vier Jahren der Zwischenzeit in der Opposition hat er an der Kanzlerin scharf kritisiert, dass sie lieber auf moralische Anklage statt auf geduldigen Dialog setze. In einem langen Aufsatz mit dem Titel „Realismus und Prinzipientreue“ kritisierte er einen Kurs, der sich in „Anklage und Dialogverweigerung“ ergehe und „folgenlose Empörung“ zur Schau stelle. Gerade in Bezug auf Moskau plädierte er dafür, „Dialog zu führen, ohne sich von „Rückschlagen“ bei Demokratie und Menschenrechten irritieren zu lassen.

Die Bundeskanzlerin ist nicht nachtragend. Die beiden, versichert man durchaus glaubhaft in Kanzleramt wie Außenministerium, arbeiteten in der Ukraine-Krise eng zusammen. Das sei schon fast „Synchronschwimmen“, sagt ein Vertrauter Merkels. Allerdings ist die Kanzlerin offenbar längst nicht mehr so sicher, dass Putin überhaupt noch Argumenten zugänglich ist. In einem Telefonat mit US-Präsident Barack Obama soll sie gesagt haben, sie frage sich, „ob Putin nicht den Bezug zur Realität verloren habe“, berichtet die „New York Times“. Wenn es so wäre, ginge Steinmeiers Strategie ins Leere.

So gut Kanzlerin und Außenminister im aktuellen Konflikt zusammenarbeiten – Steinmeier ist auch Konkurrent. Er will den spätestens unter Vorgänger Guido Westerwelle (FDP) verloren gegangenen Einfluss des Auswärtigen Amtes in der Europapolitik zurückgewinnen. Dafür hat er den bisherigen Chefsprecher von Finanzminister Wolfgang Schäuble, Martin Kotthaus, zum Leiter der Europa-Abteilung im Außenamt gemacht. Der war vorher sechs Jahre lang Sprecher der deutschen Vertretung bei der EU. Steinmeier weiß, dass er auch Finanzkompetenz braucht, wenn er in Fragen der EU Einfluss zurückgewinnen will. Dabei geht es nicht nur um Fragen des Prestiges oder persönlicher Einfluss-Sphären. In keinem anderen Punkt liegen Merkel und Steinmeier weiter auseinander. Merkel hat sich längst an die Bequemlichkeit gewöhnt, wichtige europäische Entscheidungen im Kreis der Regierungschefs zu treffen. Steinmeier will dagegen das EU-Parlament stärken und der EU-Kommission eine gewichtigere Rolle verschaffen. Möglichst mit dem Sozialdemokraten Martin Schulz als Kommissionspräsidenten.

Das ist Zukunftsmusik. Derzeit überlagert die Ukraine-Frage alles. Heute treffen sich in Brüssel die Staats- und Regierungschefs der EU in Brüssel. Vermutlich wird es keine Sanktionen gegenüber Russland geben. Dafür das Angebot von Milliardenhilfen für die instabile und fast bankrotte Ukraine. Noch geht Steinmeiers Strategie auf.

Die Bundesbürger sind mit ihm zufrieden. Im ARD-Deutschlandtrend für Februar steht Angela Merkel zum ersten Mal seit zwei Jahren nicht mehr an der Spitze der Liste der beliebtesten deutschen Politiker. Verdrängt von Frank-Walter Steinmeier.