Mit dem Besen vor dem Stein herzuwischen, ist die einzige Möglichkeit, die Laufbahn des Steins abzulenken oder zu bremsen. Foto: Johannes Feederle

Schottland ist mehr als Whisky, Männer in Röcken und Dudelsackmusik: Das einstige Königreich im Norden Englands hat der internationalen Sportwelt mit Curling auch eine olympische Disziplin beschert. Die Wintersportart ist vor allem in den nördlichen und alpinen Ländern beliebt. Und auch im Schwarzwald findet man begeisterte Aktive. Zum Beispiel in Schwenningen.

Till Wunderlich steht völlig ruhig auf der Eisfläche. Mit seinem Besen zeigt er auf einen Punkt am Kopfende der Eisbahn auf der Grenze zwischen dem weißen Zentrum – genannt Dolly – und dem sich anschließenden blauen Kreis. Hier soll seine Teamkollegin und Schwester Fiona ihren nächsten Stein platzieren. Trainingsalltag für das Geschwisterpaar aus Villingen-Schwenningen, das seit mehreren Jahren ein erfolgreiches Mixed-Team bildet.

In gut 35 Metern Entfernung bereitet sich Fiona Wunderlich darauf vor, den nächsten Stein zu spielen. Ihr Blick wandert vom Besen ihres Bruders zum Stein, der vor ihr auf dem Eis liegt, und wieder zurück. Dabei zeichnet sie mit ihren Augen die optimale Laufbahn des Steins auf der fünf Meter breiten Bahn voraus: eine perfekte, langgezogene Kurve.

Volle Konzentration

Die 20-Jährige atmet tief ein, hält kurz inne, um dann langsam auszuatmen. In aller Ruhe schiebt sie den knapp 20 Kilogramm schweren Stein aus Granit mit dem Fuß leicht in Position, stellt sich dahinter und geht in den Ausfallschritt. Den rechten Fuß setzt sie nach hinten auf den sogenannten Hack – einen ins Eis geschlagenen Block, den linken weit nach vorn. In der linken Hand hält sie ihren Besen, mit dem sie sich abstützt, um die Balance zu halten. Mit der rechten Hand umfasst sie den Griff des Steins, ihr Blick geht nach innen. Die Konzentration steigt. Sie und der Stein werden eins.

Extrem am Rand

Am Rand der 42 Meter langen Spielfläche mit den vier Bahnen steht Sebastian Schweizer, Eismeister, Trainer und Vize-Präsident des 1968 gegründeten Curling Clubs Schwenningen. Als Aktiver hat er drei Deutsche Meisterschaften und 2011 eine Silbermedaille bei den Europameisterschaften gewonnen. 2019 hat der heute 41-Jährige mit dem Leistungssport aufgehört, zu dem er per Zufall gekommen ist: »Unser Sportlehrer hat uns damals zum Curling mitgenommen.« Das hat nicht nur ihm, sondern auch ein paar Schulfreunden Spaß gemacht, so dass aus den Freunden ein Curling-Team wurde. Nur fünf Jahre später durfte er auf der Junioren-Weltmeisterschaft bereits die deutschen Farben vertreten. Er lächelt beim Gedanken daran. »Curling ist eine extreme Randsportart, so dass Du national schnell zur Spitze zählen kannst«, sagt er. International stehen andere Nationen im Ranking deutlich vor Deutschland.

Exakt kalkuliert

Es fällt kein Startschuss, kein Pfiff ertönt. In dem Moment, in dem Fiona bereit ist, stößt sie sich ruhig und druckvoll ab. Ihr Körper ist voller Spannung, und der Stein wirkt dabei wie eine Verlängerung ihres angewinkelten Arms. Ruhig und konzentriert gleitet sie auf die erste schwarze Linie im Eis zu, den Blick nach vorn gerichtet. Kurz vor der Markierung, der sogenannten Hog-Line, öffnet Fiona ihre Hand und gibt dem Stein beim Loslassen einen Impuls, so dass er sich mit einer exakt kalkulierten Drehung auf die Reise über das Eis macht. Sie bleibt im Ausfallschritt, hält sich mit dem Besen als Stütze in Balance und folgt dem Stein mit ihren Augen, bevor sie sich langsam aufrichtet und die Anspannung langsam weicht.

Reise ins Blaue

Auch ihr Bruder verfolgt die Kurve, die der Stein nimmt, nachdem er die erste Hog-Line passiert hat. Es folgen die zweite Hog-Line, die den Zielbereich definiert, dann ein roter, ein weißer und der blaue Kreis, der den Mittelpunkt umrahmt. Immer langsamer werdend gleitet der Stein auf den Besen von Till zu. Keine zehn Zentimeter davor ist seine Reise beendet. Da hat Fiona längst ihren Bruder und Teamkollegen erreicht. Er grinst sie an. »Gut«, sagt er.

Kraftvoll wischen

Wäre dies ein reguläres Spiel gewesen und hätte es die Spielsituation erforderlich gemacht, wäre der Stein näher ans Ziel gekommen, erläutert Sebastian Schweizer. Das liegt am Wischen oder Fegen. Durch die Reibung entsteht ein minimaler Wasserfilm, der das Gleiten des Steins unterstützt und die Drehung minimiert. »Zehn Meter zusätzlich sind drin«, weiß der 41-Jährige aus eigener Erfahrung. Um das zu schaffen, müssen sich die Aktiven mit ihrem kompletten Gewicht auf den Besen aus Kohlefaser lehnen und die Eisfläche mit aller Kraft bearbeiten. 20 bis 30 Sekunden lang: »Beim normalen Teamwettbewerb mit Viererteams gilt das bei jedem der acht Steine pro Runde – und über zehn Runden.«

Wenn der Skip übernimmt

Wobei die Positionen innerhalb des Teams im Lauf einer Spielrunde, in der Fachsprache als »End« bezeichnet, wechseln. In jedem Team gibt es die Rollen »Lead«, »Second«, »Third« und »Skip«. Mit Skip wird die Mannschaftsführung betitelt: Sie steht bei den ersten sechs Steinen eines Ends im Zielbereich und gibt den anderen Mitgliedern die Richtung vor. Wenn der Skip an der Reihe ist und die Steine sieben und acht ausspielt, übernimmt Third die Rolle. Lead, Second und Third spielen jeweils zwei Steine und übernehmen – mit einer Ausnahme von Third – das Wischen. »Verstanden?«, fragt Sebastian. Er grinst.

Im T-Shirt-Modus

Neben der Eisfläche ist eine kleine Wetterstation. Das Hygrometer zeigt eine Luftfeuchtigkeit von 71 Prozent an, die Temperatur in der Eishalle beträgt sieben Grad. Sebastian Schweizer trägt eine Jacke über einem dicken Pulli, während er das Training beobachtet. Fiona dagegen hat ihre Trainingsjacke ausgezogen und bereitet sich im blauen Kurzarmtrikot auf den nächsten Stein vor. Auch Till ist mittlerweile im T-Shirt-Modus, nachdem er zwei Bahnen gewischt hat, und wartet an der Hog-Line darauf, dass seine Schwester loslegt. Im Zielbereich – House genannt – liegen bereits einige Steine zu Übungszwecken. Die wollen entweder umkurvt oder weggerammt werden. Ein kurzer Blickkontakt, ein Nicken – und Fiona beginnt mit ihrer Startroutine.

Stein – Ziel – Stein – Ziel

Kaum ist der Stein aus ihrer Hand und über die Hog-Line, lehnt sich der 25-Jährige mit seinem ganzen Gewicht auf den Besen und wischt vor dem gleitenden Stein. Es sind kurze, sehr schnelle und vor allem druckvolle Bewegungen. Sein Blick wandert vom Stein zum Ziel, zum Stein, zum Ziel, der Atem geht stoßweise. Dabei gleitet er selbst in minimalem Abstand daneben, der Besen mit dem gelben Kunstfaserkopf – der eher einem Schwamm fürs Whiteboard gleicht – direkt davor. Berühren darf er den Stein nicht, weder mit dem Besen noch mit einem Körperteil.

Wie ein Tänzer

Der Stein hat mittlerweile das House erreicht und gleitet an dort liegenden Steinen vorbei. Jetzt muss Till nicht nur darauf achten, den eigenen Stein nicht zu berühren, sondern auch die dort liegenden. Wie ein Tänzer bewegt er sich – weiter wischend – inmitten der grauen Spielgeräte, bis der eigene Stein seinen Lauf beendet hat. Er holt tief Luft, entspannt sich. Fiona hat ihrem Bruder während des Wischens zugesehen, sich jetzt neben ihn gestellt. Sie holt den Gripper aus der Tasche und zieht ihn über die Sohle ihres rechten Schuhs.

Teflon unter den Füßen

Fürs Curling braucht es nicht viel: eine Eisfläche, Steine, ein Ziel, einen Besen – und besondere Schuhe. Denn Curler müssen sich einerseits stabil und sicher auf dem Eis bewegen, andererseits möglichst reibungsarm gleiten. Daher sind die Schuhsohlen unterschiedlich, sagt Sebastian Schweizer: »Einer der beiden Schuhe hat ein normales Profil, das vor allem auf glatten Oberflächen Halt bietet, der andere besitzt eine blanke, ebene Fläche.« Das erlaubt das Abstoßen und Bremsen mit dem einen, das Gleiten mit dem anderen. Damit es nicht zu ungewollten Ausrutschern kommt, gibt es den Überzieher, den Gripper, für die glatte Schuhsohle.

Eine große Familie

Am Ende des Trainings sitzen Sebastian und die Geschwister im warmen Stüble, von dem aus die Curlinghalle zu überblicken ist. Der Eismeister hat sich einen heißen Kaffee geholt, Fiona und Till trinken Cola frisch aus dem Kühlschrank. Nach dem aktiven Teil stehen nun die Abschlussbesprechung und die Planung der kommenden Einheiten an. Fiona studiert in Konstanz, Till arbeitet in Schwenningen, da müssen Termine gut koordiniert werden. Denn die zwei wollen wieder durchstarten, nachdem sie durch eine Verletzung im vergangenen Jahr ausgebremst worden sind. Und sie freuen sich bereits auf die Wettkämpfe. »Die Sportfamilie der Curler ist nicht so groß, der Zusammenhalt dafür umso größer«, sagt Fiona. Daher gehe es in den Wettkämpfen »natürlich ums Gewinnen«, danach aber stehen der freundschaftliche Austausch und das Miteinander im Vordergrund. »Wir Curler sind schon irgendwie eine große Familie«, fügt Till mit einem Lächeln dazu.