Quelle: Unbekannt

Zahl der Morde hat sich in zehn Jahren vervierfacht – Selbst obere Zehntausend sind nicht mehr sicher.

Caracas - Juan Carlos blickt apathisch auf den Boden, seine Frau Carolina sucht derweil Halt in einer festen Umarmung. Mehr als ein kurzes „Warum Felipe?“ bringt sie nicht über die Lippen. Der Schmerz der Eltern ist vor dem Morgue de Bello Monte spür- und hörbar.

Leise wimmern der Straßenhändler und die Krankenschwester vor dem wohl berühmtesten Leichenschauhaus Venezuelas wie so viele Eltern vor ihnen. Sie wurden herbestellt, um ihren Sohn Felipe zu identifizieren. Er wurde gerade einmal 17 Jahre alt. Drei Kugeln beendeten das Leben des Fußballfans, der so gerne Anwalt geworden wäre. Von den Tätern fehlt jede Spur, ob sie jemals dingfest gemacht werden, ist angesichts einer Aufklärungsrate von weniger als zehn Prozent mehr als fraglich.

Felipes Verhängnis, so berichten seine Freunde, die den Mord mit ansehen mussten, war sein neues Handy, das die Mörder dem Sterbenden aus der Hosentasche stahlen. Rodrigo (16), ein Freund Felipes, will seine Beobachtungen nicht der Polizei melden: „Ich bin doch nicht verrückt“, sagt er. „Ich habe doch jetzt schon viel zu viel gesagt.“ Felipes Leiche ist aufgebahrt im Leichenschauhaus von Bello Monte. Endstation eines jungen Lebens und Beginn eines langen Traumas für die verzweifelten Eltern.

72 Morde an einem Wochenende

Die Leichen werden am Wochenende zu Dutzenden eingeliefert. Caracas ist mittlerweile zur gefährlichsten Hauptstadt Lateinamerikas verkommen. Vor wenigen Wochen meldeten die Behörden einen traurigen Rekord. 72 Morde zählte die Polizei an einem einzigen Wochenende, ob alle Toten tatsächlich erfasst wurden, ist fraglich. Die Dunkelziffer, so vermuten Experten, ist weit höher.

Felipes Schicksal wird nur eine weitere Nummer in der Statistik des Grauens sein. Obwohl in Venezuela kein Krieg herrscht wie im Irak und kein bewaffneter Konflikt tobt zwischen brutalen Paramilitärs, mordender Guerilla, der Drogenmafia und dem Staat wie im benachbarten Kolumbien, weist das Land ähnlich hohe Mordraten auf. Im Jahr 2010 kamen 17. 600 Menschen gewaltsam ums Leben, für dieses Jahr rechnen die Experten mit bis zu 19. 000 Mordopfern. Mit 75 Morden pro 100.000 Einwohner führt Venezuela die Mordstatistik in Südamerika an.

Schwer bewaffnete Kinder

Schwer bewaffnete Kinder

Als Hugo Chávez 1999 an die Macht kam, wurden pro Jahr 4550 Menschen ermordet. Der neue Machthaber versprach damals, die Gewalt im Land einzudämmen. Vor wenigen Tagen tauchten im Internet Bilder von schwer bewaffneten Kindern auf: Sie posierten mit sozialistischem Halstuch und Uniform vor einem Graffiti, das einen kämpfenden Jesus zeigt. Die Fotos aus Caracas gefährlichstem Stadtteil, dem Bloque 23 de Enero, sorgen in Venezuela für Diskussionen.

Denn es ist ein offenes Geheimnis, dass Staatspräsident Chávez in den Armenvierteln rote Milizen „zur Verteidigung der Revolution“ mit Waffen ausstattet. Dass dann auch noch Mexikos Botschafter Carlos Pujalte und seine Frau Paloma Ojeda ausgerechnet im gut gesicherten Villenviertel La Nueva Florida Opfer einer der unzähligen Express-Entführungen wurden, befeuerte die Debatte im Wahljahr zusätzlich. Niemand ist vor der Gewalt in Caracas mehr sicher.

Gewalt breitet sich wie ein Krebsgeschwür aus

Im vergangenen Jahr hat die Tageszeitung „El Universal“ ein Schockfoto veröffentlicht, dass einen Leichenberg im Morgue de Bello Monte zeigt. Die Redaktion wollte damit auf die ausufernde Gewalt hinweisen, die sich wie ein Krebsgeschwür in dem südamerikanischen Land ausgebreitet hat. Die Ziffern, die aufrütteln sollten, lieferte das Blatt gleich mit: 15 Millionen illegale Waffen gibt es in Venezuela. 72 Prozent der Mordopfer sind zwischen 15 und 29 Jahre alt. Zwei Drittel von ihnen starben zerfetzt von mindestens fünf Kugeln. Viele sind so grauenhaft zugerichtet, dass es Tage dauert, die Leichen zu identifizieren. Dann spielen sich herzzerreißende Szenen in den Krankenhäusern und Leichenschauhäusern Venezuelas ab, wenn die Angehörigen ihre Söhne, Töchter, Väter oder Mütter anhand zerfetzter Körperteile wiedererkennen sollen.

Die Sicherheitslage in Venezuela wird zu einem der Themen im Vorfeld der Präsidentschaftswahl im Oktober 2012, bei der sich der nach eigenen Angaben von einer Krebserkrankung wiedergenesene Staatschef erneut zur Wahl stellen wird. Bislang prallten die Vorwürfe an Chávez ab. Der schiebt die Verantwortung für die ausufernde Gewalt gerne oppositionellen Gouverneuren oder Bürgermeistern zu. Doch im Land wächst der Protest von Menschenrechtsorganisationen und jungen Studentengruppen, die das hilflose wie fruchtlose Agieren des Staatsapparats nicht mehr länger hinnehmen wollen.

Keine Maßnahme zeigt Wirkung

Der junge Oppositionspolitiker Henrique Capriles (40), der Chávez bei den Wahlen herausfordern will, hat das Sicherheitsthema bereits als wichtigstes Wahlkampfthema entdeckt: „Der Politik fehlt der Wille, die Gewalt zu beenden.“ Chávez reagierte bislang auf Kritik an der Sicherheitssituation im Land mit den immer gleichen Maßnahmen: Er kündigt die Aufstockung der Polizei an. Doch bislang hat keine der Maßnahmen Wirkung gezeigt. Auch eine öffentlichkeitswirksam ins Leben gerufene Spezialeinheit der Polizei wurde der Gewalt im Land nicht Herr.

Einst prangte über den Dächern der Hauptstadt ein riesiges Plakat: „Sozialismus, Vaterland oder Tod“ konnten die Venezolaner in metergroßen Buchstaben lesen. Die Prophezeiung der Machthaber hat sich bewahrheitet, wenn auch anders als gedacht: Sowohl Sozialismus als auch Tod sind im Vaterland längst angekommen.