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Am Sonntag feiern wir in unseren evangelischen Kirchen "Kantate". "Kantate" ist

Am Sonntag feiern wir in unseren evangelischen Kirchen "Kantate". "Kantate" ist lateinisch und bedeutet: "Singt!" Diese Aufforderung findet sich in Psalm 98, Vers 1: "Singt dem Herrn ein neues Lied, denn er tut Wunder!" Genau diesem Appell also folgen am Sonntag landauf, landab viele hundert Gesangsformationen, seien es Kirchenchöre, Gospel-, Jugend- oder Kinderchöre.

Dann wird hörbar und erlebbar, was die Chöre in wochen- und monatelangen Proben erarbeitet haben: die Choräle, die Lobgesänge, die Lieder, die den Dank an Gott zum Inhalt haben, den Dank für die Schöpfung, das Leben, die Liebe, die Freiheit, die Freude, den Glauben. Mehr als Worte es jemals können, transportiert der Gesang die grundlegenden Inhalte unseres Glaubens auf eine zugängliche, emotionale und bewegende Art und Weise. Kein Wunder, dass der Sonntag "Kantate" für viele ein Höhepunkt des Kirchenjahres ist: Von kaum etwas anderem lassen sich Menschen so verzaubern, so berühren, so begeistern wir von einem schönen Lied.

Das Singen durchzieht übrigens auch die Bibel wie ein roter Faden. Denken wir nur an den Lobgesang Hannas, der von der Befreiung der Erniedrigten und Unterdrückten singt und von der Umkehrung der Verhältnisse. Denken wir an den Gesang der Maria, die mit Jesus schwanger ist und ihre Freude nicht anders als singend zum Ausdruck bringen kann. Oder denken wir an Simeon, der ein Danklied anstimmt, nachdem seine Augen das Heil gesehen haben und er in Frieden sterben kann. Auch Martin Luthers reformatorische Entdeckung hat sich zweifellos durch seine Schriften verbreitet, mehr noch aber wahrscheinlich durch seine Lieder!

Lieder können uns Mut machen, Kraft geben, stärken, trösten. Wenn wir ein schönes Lied hören oder einen anmutigen Gesang, dann kann’s uns schon auch mal kalt den Rücken runter laufen, uns die Tränen in die Augen treiben oder unser Herz so ausfüllen, dass es schier zerspringen möchte. Nichts sonst hat diese Macht!

Aber es kommt noch etwas anderes hinzu: Ein gutes Lied weist weit über sich selbst hinaus auf das Göttliche, auf das Gute, auf das, was anderen Hoffnung macht. Deshalb gilt alle meine Bewunderung Sängern und Chören, deren Gesang transparent ist für etwas, das unendlich viel größer ist als sie selbst: für das Göttliche. Wirklich gute Sängerinnen und Sänger verkünden nicht sich selbst, so göttlich sie auch singen mögen. Sie verkünden etwas, das unendlich viel größer ist als sie. Und damit wiederum beweisen sie eigene Größe.

In meiner langjährigen Erfahrung mit Chören ist mir immer wieder die Aussage begegnet: "Ich kann nicht singen!" Ich antworte dann stets: "Jeder kann singen!" Vielleicht nicht als Solist, aber ganz gewiss in einem Chor. Und jeder, der sich schon einmal auf das zugegebener- maßen oft langwierige Arbeiten in einem Chor eingelassen hat, konnte eine eigentümliche Erfahrung machen: da kommt man beim gemeinsamen Singen plötzlich an einen Punkt, an dem ein Ruck durch den Chor geht, an dem sich alle gegenseitig erstaunt ansehen, als ob sie sagen wollten: was ist denn jetzt passiert? Man kann diesen erhabenen Augenblick fast nicht beschreiben, obwohl ihn jeder spürt. Es ist jene schier nicht in Worte zu kleidende Harmonie, jene Schönheit, jene Leidenschaftlichkeit und Hingabe, die den Gesang auf eine höhere Ebene hebt und fast schon etwas Göttliches hat. Oder um im Sprachgebrauch des Psalms zu bleiben: fast schon ein Wunder ist. Das passiert selten. Das kann man nicht herbeiführen, nicht erzwingen. Aber plötzlich ist es da. Jeder spürt es und jeden begeistert es. Das sind die ganz kostbaren, wenngleich seltenen Augenblicke, auf die man so lange hingearbeitet, ja hingefiebert hat und die die ganze Mühe allemal wert sind.

Falls jetzt jemand Lust auf das Chorsingen bekommen hat, kann ich ihn nur ausdrücklich dazu ermutigen. An Gelegenheiten mangelt es nicht. Der Sonntag "Kantate" wäre ein guter Anlass!