Ein Gespann mit zwei Ochsen wurde bei einem Tieffliegerangriff in der Stuttgarter Straße am 26. März 1945 getroffen. Foto: Nuding

Vor 70 Jahren besetzen französische Soldaten die Stadt / Plünderungen, Misshandlungen und Vergewaltigungen

Von Hartmut Würfele

Calw. Vor 70 Jahren gegen 21 Uhr rollten die ersten französischen Panzer auf den Calwer Marktplatz. Es war der 15. April 1945, ein Sonntag. Calw war jetzt besetzt. Es begann eine Woche, die sich als Schreckenstage im Gedächtnis der Bevölkerung eingeprägt hat.

Die Endphase des Zweiten Weltkrieges in Süddeutschland setzte in der letzten Märzwoche 1945 mit dem Überschreiten des Oberrheins durch amerikanische Truppen ein. Ihnen folgte die 1. französische Armee, der tunesische, marokkanische und algerische Soldaten angehörten. Sie hatte den Auftrag, in den nördlichen Schwarzwald vorzustoßen.

Den feindlichen Verbänden stand in diesem Abschnitt die 19. Deutsche Armee gegenüber, deren verschiedenen Divisionen nur noch aus improvisierten neu zusammengesetzten oder versprengten Einheiten bestanden. Die im Nagoldtal operierende 257. Volksgrenadierdivision hatte am 14. April noch eine Kampfstärke von etwa 3500 Mann, die Sollstärke betrug 12 000 Soldaten. Zudem herrschte großer Mangel an Kriegsmaterial, Munition und Treibstoff.

Auch war der im September 1944 zur Verteidigung der Heimat aufgestellte Volkssturm nicht mit Begeisterung bei der Sache, und die Eingezogenen taten nur das Nötigste, um nicht Gefahr zu laufen, vor ein Standgericht gestellt zu werden, wie der stellvertretende Landrat Karl Römer damals schreibt.

Ab Beginn des Jahres 1945 verschlechterte sich die Versorgungslage der Calwer Bevölkerung zusehends. Mit dem Näherrücken der Front kam es zu Durchzügen und Einquartierungen militärischer Einheiten und Einrichtungen.

Seit September 1944 hatten die Luftangriffe von alliierten Tieffliegern mit Bordwaffenbeschuss auf Eisenbahnanlagen, fahrende Züge und Kraftfahrzeuge stetig zugenommen. In der Stadt wurden Wohnhäuser zerstört oder beschädigt. Ab 24. März bis zur Besetzung der Stadt kamen mindestens 16 Zivilisten durch Kriegseinwirkungen ums Leben.

Die von der NSDAP-Kreisleitung erwogene Evakuierung der Bevölkerung sowie die vorgesehene Zerstörung von Versorgungseinrichtungen und Anlagen wurde nicht durchgeführt. Im Nachhinein waren es viele, die an der Rettung von Calw beteiligt gewesen sein wollten.

Gegen Mitte April rückten die französischen Kampfgruppen vom Enztal aus auf Bad Liebenzell und Calw vor; trotz vorübergehender Abwehrerfolge der 716. Infanteriedivision und der 257. Volksgrenadierdivision bei Oberlengenhardt. Am Vormittag des 15. April zogen deutsche Soldaten die Altburger Straße hinauf, um Stellungen zwischen Würzbach und Oberreichenbach zu verstärken. Nach den Schilderungen des damaligen evangelischen Dekans Alfred Brecht sahen andere, zurückkehrende Soldaten "müde und abgekämpft aus und waren schlecht ernährt und ausgerüstet. Die wenigen noch vorhandenen Geschütze wurden von den Soldaten mit Stricken gezogen."

Ein Augenzeuge berichtete, dass sich nach großem Gelage die NS-Kreisleitung in voll beladenen Autos und Lastwagen in Richtung Oberschwaben/Allgäu abgesetzt hat.

Kurz nach 11 Uhr wurde die Stadt mit Artillerie beschossen. Die erste Granate traf das Beamtenwohnhaus in der Vorstadt, wo die Frau und Tochter des Studienrats Hermann so schwer verletzt wurden, dass sie daran starben. Eine weitere Granate tötete im Zwinger Paula Brüderle. Am frühen Nachmittag schlugen Granaten auf dem Marktplatz ein. Der im Hauseingang stehende Friseur Wilhelm Winz fand dabei den Tod. Das obere Stockwerk des Oberamtsgebäudes wurde getroffen und eine Granate fuhr durch den Turmhelm der Kirche, sodass der Turmhahn herabfiel. Das Dach der Kirche wurde erheblich beschädigt und die meisten Buntglasfenster am Chor gingen zu Bruch.

Die Buchdruckerei Adolff (heute Schwarzwälder Bote) in der Lederstraße fiel in Trümmer und weitere Gebäude wurden in Mitleidenschaft gezogen. Am Nachmittag hörte die Beschießung auf.

Die Menschen warteten in ihren Wohnungen ab, was geschehen würde. Gegen 19 Uhr kam von Alzenberg die telefonische Meldung, dass Altburg eingenommen sei, und mit dem Vorrücken der französischen Streitkräfte nach Calw noch in der Nacht gerechnet werden müsse.

Es war schon dunkel, als gegen 20.30 Uhr Einheiten des französischen "Combat Command 4", einer gemischten Kampfgruppe mit schweren und leichten Panzern sowie Halbkettenfahrzeugen die Sperren aus Baumstämmen in der Altburger Straße durchbrachen und in der Innenstadt Stellung bezogen.

Das Haus Eiseler am Mühlweg wurde mit Leuchtspurmunition in Brand geschossen, Löschversuche wurden von den Besatzungstruppen verhindert. Den Panzern folgten nordafrikanische Kolonialsoldaten, die Stadt war damit besetzt. Viele Einwohner verharrten in ihren Kellern oder den Luftschutzkellern und hatten vom Einmarsch wenig oder nichts mitbekommen.

Bürgermeister Otto Göhner übergab vor dem Rathaus den französischen Truppen die Stadt. Er wurde noch in der Nacht verhaftet und zusammen mit anderen Bürgern im Keller, der inzwischen zur Kommandantur gewordenen Polizeiwache, festgehalten. Alle wurden am anderen Tage wieder freigelassen.

Jetzt aber begannen Tage der Plünderungen, Verunreinigungen und Verwüstungen von Wohnungen und Häusern, Misshandlungen und Vergewaltigungen durch die französischen Besatzungssoldaten, die sich als "Schreckenstage im April 1945" tief ins Gedächtnis der Calwer Bevölkerung eingeprägt haben.