"Es war einmal": Der Teilabriss des Mautekomplexes ging gestern vonstatten. Das Foto links zeigt, wie marode die Bausubstanz zuletzt war. Das Bild in der Mitte ist letzter Blick auf die Fassade, wie sie Jahrzehnte das Ortsbild der Bahnhofstraße prägte. Der Abbruch wurde vielfach dokumentiert. Fotos: Rath Foto: Schwarzwälder-Bote

Teilabriss des Mautekomplexes offenbart Bisinger Innenansichten / Sammler rettet Zeitdokumente in letzer Minute

Von Volker Rath

Bisingen. Abschied auf Raten: Der Teilabbruch des maroden Mautekomplexes ist gestern erfolgt. Zahlreiche Bisinger pilgerten in die Bahnhofstraße. Einige waren neugierig, andere wollten von der Heimatgeschichte retten, was zu retten ist. Aber ganz kalt ließ das Thema wohl keinen.

Kurz nach 9 Uhr röhrt der Dieselmotor des Baggers auf und spuckt blauen Qualm aus. Die Ketten quietschen, dann stößt der Stahlarm erstmals durch die Fassade der markanten Industriebrache. Holzbalken knacken, Mauern knarzen, ab und zu klirrt Glas. Ein paar Stöße vor und zurück, dann sacken Wände über ganze Etagen in sich zusammen. "Es war einmal", raunt ein älterer Passant.

Er ist nicht der einzige Zaungast dieser Tage. Als die Verfügung des Landratsamts zum Zwangsabriss rausgeht, macht das Thema schnell die Runde. Zahlreiche Bisinger finden sich in die Bahnhofstraße ein, schon am Vorabend des Abbruchs. Einige haben Kameras dabei. Was jetzt fällt, ist der Anbau von 1935. Der bröckelnde Putz und eingeknickte Fensterstürze geben seit Monaten den Blick auf die Konstruktion im Bauhausstil frei. Fachwerk, solide Arbeit, leider seit Jahren verwahrlost. Der Abbruch, so die Stimmung, sei wohl unvermeidlich. Aber weh tue es trotzdem. "Da drin hab ich meine Lehre zum Mechaniker gemacht", erzählt ein Senior. Etwas Wehmut sei schon dabei, gesteht er.

So wie ihm wird’s vielen Bisingern gehen. Mehr als 1000 Mitarbeiter beschäftigte Maute zu Spitzenzeiten. Mit der Textilkrise erfolgte der schleichende Niedergang des einstigen Vorzeigebetriebs. Der wuchtige Bau war Stolz der Bisinger, ein Wahrzeichen der Gemeinde und steinernes Denkmal für den Wandel vom Bauern- zum Industrieort. Schon von Weitem für jedermann sichtbar. Den Bau erhalten und sinnvoll nutzen zu können, wäre eine feine Sache. Aber außer einigen Plänen, einem Transparent und wolkigen Versprechen der Eigentümer ist bislang nicht viel passiert. "Da fehlt’s wohl da", sagt ein Beobachter am Bauzaun und reibt Daumen gegen Zeigefinger. "Was soll’s", sagt der Senior, "nichts ist beständiger als der Wandel. So sagt man doch, oder?"

Man muss nicht jenseits der 60 sein, um Melancholisch zu werden. Helge Martelock, 42 und Jugendsozialarbeiter, zeichnet den Abriss mit der Videokamera auf. Passanten ducken sich respektvoll unter dem Objektiv durch. Er ist um die Ecke groß geworden, wohnt heute im Bahnhofsgebäude. Auch für ihn sei das hier eine emotionale Geschichte. "Da wird grade ein Stück meiner Kindheit demontiert", sagt er.

Und ein Stück Geschichte. Aber einige Zeitdokumente wurden in letzter Minute noch gerettet. So hat ein Heimatforscher am Vorabend noch schnell die alten Schreibtische durchstöbert. "Betreten auf eigene Gefahr", hatten ihm die Bauarbeiter mitgeteilt. Aber es habe sich gelohnt, sagt er. Das alte Schild "Forschungsstelle D" ist gesichert, das aus der Zeit stammt, als Heisenberg und andere Wissenschaftler im Dritten Reich im Auftrag des Kaiser-Wilhelm-Instituts in Haigerloch an Hitlers Atombombe arbeiteten. Im "Maute" experimentierte der ausgelagerte schweizer Ingenieur Walter Dällenbach mit kernphysikalischen Großapparaten an "Wunderwaffen". Seine Strahlenkanonen blieben Wunschträume. Für den Heimatforscher war der Kurzbesuch ergiebiger: In einem Schreibtisch fand er das Gästebuch von Heinrich Maute, das die Besuche von 1936 bis in die 70er-Jahre dokumentiert. Hochrangige Nazi-Ministerialbeamte und SS-Offiziere gaben sich hier die Klinke in die Hand. Aber es gibt auch friedliche, heitere Funde, etwa einen alten 16-Millimeter-Film aus den 50er-Jahren. Mitarbeiterausflug, steht auf der Spule. "Ob es wohl noch Abspielgeräte gibt", fragt sich der Finder. Egal. Dafür ist später noch Zeit.

Denn der Abbruch geht zügig voran. Der Stahlarm schnappt sich ein Teil des Dachs, krachend sacken die Zwischenböden zusammen. Stunden später, und der alte Innenhof mit Kopfsteinpflaster ist ein offener Platz. Neue Bisinger Innenansichten. Wann fällt wohl der nächste Trakt? "Keine Ahnung", sagt ein Zaungast, "Hauptsache, der Kamin bleibt stehen. Und das Turbinenhaus."