Jochen Schönleber (links) im Gespräch mit Spezialist Anselm Gerhard. Foto: Bechtle Foto: Schwarzwälder-Bote

Bedeutender Forscher im gut besuchten Forum König-Karl-Bad / Verständnis für Musik sowie Handlung

Bad Wildbad(cht). Einer der bedeutendsten Forscher zur Oper des 19. Jahrhunderts ist Anselm Gerhard, Professor für historische Musikwissenschaft, Direktor des Instituts für Musikwissenschaften an der Philosophisch-historischen Fakultät der Universität Bern (Schweiz).

"Rossini in Wildbad" war es gelungen, diesen Spezialisten der Pariser Oper zu Rossinis Zeit für einen Festvortrag im gut besuchten Forum König- Karl-Bad zu gewinnen. Gerhard bezeichnete die Oper "Guillaume Tell" (1829) als Rossinis "9. Symphonie" entsprechend Beethovens bekanntester Symphonie (1824). Beide Werke sind Glanz-, Höhe- und weitgehend auch Schlusspunkte des Schaffens der beiden Komponisten. Beide Kompositionen haben Werke von Friedrich Schiller, nämlich die Ode "An die Freude" (1795/1808) und das Drama "Wilhelm Tell" (1803/04) als Grundlage, in denen die klassische Idee einer Gesellschaft gleichberechtigter Menschen beschrieben wird, die durch das Band der Freundschaft verbunden sind.

Allerdings, so Gerhard, sei Rossinis Tell nicht so formvollendet wie die Neunte, da Rossini eine Liebesgeschichte (Mathilde – Arnold) eingefügt habe, sozusagen eine Zutat an den damaligen Publikumsgeschmack. Erstaunlich sei die Gleichzeitigkeit der beiden letzten großen Werke der Komponisten Rossini und Beethoven.

Beide Kompositionen enthalten Chöre: die "Neunte" war überhaupt die erste Symphonie mit einem Chor, in Rossinis Tell greifen die Chormitglieder in die Handlung ein und stehen sowohl im wechselnden als auch im gemeinsamen Gesang mit den Solisten, während in früheren Opern der Chor statisch an der Seite mitwirkte. Im Rossinis Tell wirkt allerdings nicht nur ein Chor mit, sondern bisweilen aufgeteilt in vier Chöre, was bei "Guillaume Tell" besonders ausgeprägt ist.

So war die Rossinikomposition sozusagen eine Emanzipation des Chores als Dialogpartner der Solisten, ein Modell für spätere Komponisten-Generationen und gleichzeitig der Ruf nach Freiheit.

Anhand einzelner Hörbeispiele aus Rossinis "Tell" zeigte Gerhard die Besonderheiten dieser Komposition auf

Bei Rossini und bei Beethoven ist das jeweilige Finale stark überhöht, umfangreich und bombastisch. Rossinis Schlusschor kippt zwischen Dur und Moll hin und her, wechselt die Tonarten und endet in einer großartigen Schlusskadenz, die allerdings utopische Zweifel an der Realität offen lässt.

Gerhard erläuterte auch die zahlreichen Veränderungen der ursprünglichen Rossini-Komposition.

Den spannenden Vortrag von Gerhard – so die Meinung mancher Zuhörer – hätte man vor dem Besuch der Oper hören sollen, denn dann wäre das Verständnis für Musik und Handlung von Rossinis "Guillaume Tell" wesentlich größer gewesen.