Angelika Overath liest – zu ihren Zuhören gehört auch Christian Schenk. Der Rektor des Gymnasiums Ebingen moderierte die Matinee in einem privaten Ebinger Wohnhaus. Foto: Kistner Foto: Schwarzwälder-Bote

Literaturtage: Angelika Overath bestreitet die erste Wohnzimmerlesung der Albstädter Kulturgeschichte

Es war eine Premiere, für die Gastgeberin, für die Gäste und auch für die Autorin: Eine öffentliche Lesung im privaten Wohnzimmer hat es in Albstadt bis zu dieser Woche nicht gegeben – und in Angelika Overaths literarischer Vita auch nicht.

Albstadt-Ebingen. Vergleiche mit dem bürgerlichen Salon des 19. Jahrhunderts hinken, aber ganz abwegig erschienen sie in diesem Ambiente nicht: Das Ebinger Wohnzimmer mit Talblick, in dem Angelika Overath aus ihrem Buch "Der Blinde und der Elephant" las, atmete mit den dicht hängenden Stichen an der Raufasertapete und einem geschlossen biedermeierlichen Mobiliar den Geist einer gediegenen und gewachsenen Bürgerlichkeit, wie man ihn nur selten antrifft, denn dafür bedarf es einer drei bis vier Generationen übergreifenden Familientradition samt Familiensinn. Wer als Fremder ein solches Wohnzimmer betritt, um eine Autorin lesen zu hören, der dämpft die Stimme und die Schritte, wird eine gewisse Beklommenheit zwei Stunden lang nicht völlig los und hütet sich davor, sich allzusehr zu Hause zu fühlen.

Für die Rezeption der leisen Töne, die Overath anschlug, ist eine gewisse Andacht keine üble Voraussetzung. "Der Blinde und der Elephant" versammelt Texte, die sich im Niemandsland zwischen Kurzgeschichte, Reportage und literarischer Meditation bewegen – früher gab es dafür das Wort "Feuilleton". Die ersten beiden, die die Autorin vortrug, sind autobiografisch im engeren Sinn – im weitesten, sagt Overath, gilt das für alles, was ein Autor schreibt – ihr Schauplatz Overaths Heim im Unterengadin, wohin die Wahl-Tübingerin vor Jahren mit Mann, Hund und jüngstem Sohn gezogen war, weil sie nach dem Auszug der beiden älteren Kinder genau wie diese eine biografische Zäsur setzen wollte. "Warum sollten denn nur sie etwas Neues haben?"

In beiden Texten geht es um den Tod, und zwar den eines Tieres – im ersten ist es ein junger Distelfink, der von der Mutter verlassen wurde und nun von der Familie aufgepäppelt wird, nur damit ihn alsbald die Katze holt, im zweiten der altersschwache Haushund. Overaths Prosa ist einfühlsam, findet mit traum-wandlerischer Sicherheit die Balance zwischen dem, was gesagt wird und dem, was unausgesprochen bleibt, und ist nie um das "mot juste", das treffende Wort, verlegen.

"Ich will Mut machen – aber dafür muss man die Trauer aushalten"

Das gilt auch für den dritten Text der Matinee, eine Reportage über therapeutisches Bogenschießen in der Jugendpsychiatrie. Die Reportage ist die journalistische Königsdisziplin und "Heilende Pfeile" ein Paradebeispiel dafür, was sie auszeichnen sollte: neben stilistischer Trittsicherheit genaue Beobachtung, Empathie und die Geduld, die beides voraussetzt – Overath war mehrmals in der Tübinger Klinik und hat sich viel Zeit für ihre drei Helden genommen. Eine Zuhörerin bekannte nachher, den Text ernüchternd, ja deprimierend ge- und empfunden zu haben. Anderen ging es nicht so; sie fanden ihn ermutigend. Was im Sinne der Autorin war: "Ich will Mut machen zum Leben – aber dafür muss man der Trauer ins Gesicht blicken."

Der vierte Text: ein Auszug aus der "Gebrauchsanweisung für das Engadin" – der Titel stammt vom Verlag und findet nur bedingt Overaths Beifall, passt in diesem Fall aber gut: Beschrieben wird, was einem blüht, wenn man sich im Herbst auf Sommerreifen den Flüelapass hinaufwagt. Hier wurde das Publikum lebhaft; offenbar befanden sich Skifahrer in der rund 30 Köpfe starken Runde. Den Schlusspunkt setzte eine linguistische Betrachtung über "La Naiv" – das rätoromanische Wort für Schnee – , die fast schon ein Gedicht war. Nur skandieren ließ sie sich nicht.

In der anschließenden Fragerunde ging es um die verschiedene Themen: die Jugend von heute, Dankbarkeit, Yoga-Rückenfiguren, die lebenden Bilder der Goethezeit und die selten gewordene Fähigkeit, zu verweilen. Wer sie in der Literatur sucht, findet sie in Angelika Overaths Büchern.

Weitere Informationen: Angelika Overath: Der Blinde und der Elephant. Verlag Luchterhand, 18 Euro.