Tübingen - Alleine in Deutschland gehen Experten von sechs bis achttausend seltenen Erkrankungen aus. Eine Erkrankung gilt dann als selten, wenn weniger als eine Person von 2000 Menschen von ihr betroffen ist. In der Summe macht das allein in Deutschland jedoch bereits drei bis vier Millionen Betroffene. Die „Seltenen“ sind also gar nicht so selten, sondern in ihrer Gesamtzahl eine Volkskrankheit. Diese Volkskrankheit in das Bewusstsein zu rücken, ist das Ziel des internationalen Tages der Seltenen Erkrankungen, am Mittwoch dem 29.02.2012.

Sie sind im öffentlichen Bewusstsein noch nicht angekommen und doch allein in der EU sind rund 36 Millionen Bürger, also zirka sieben Prozent der Gesamtbevölkerung, von einer seltenen Krankheit betroffen. Um dies zu ändern machen Selbsthilfeverbände wie die Landesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe Baden-Württemberg (LAG) und die Achse (Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen) am Tag der Seltenen Erkrankungen auf das Schicksal und die besonderen Bedürfnisse der betroffen Menschen aufmerksam. Betroffene brauchen eine verbesserte medizinische Versorgung und mehr Forschung sowie einen gesellschaftlichen Bewusstseinswandel.

Bei der überwiegenden Zahl dieser Krankheiten handelt es sich um komplexe Erkrankungen, die oftmals mehrere Organsysteme betreffen. Sie verursachen chronische Leiden, senken die Lebenserwartung und führen zum Teil schon im Kindes- oder Jugendalter zum Tod. „Betroffene brauchen schnellere und bessere Diagnostik durch die Bündelung von Knowhow und Kompetenzen für betroffene Menschen, auch durch weitere Zentren für Seltene Erkrankungen, wie das bundesweit erste, dass in Tübingen eröffnet wurde“, sagt Frank Kissling, Geschäftsführer der Landesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe Baden-Württemberg (LAG).

Diese Zentren für seltene Erkrankungen sollen aus Sicht der LAG nicht nur Forschung betreiben, die Diagnostik verbessern und die Diagnostik-Zeiträume verringern helfen, sondern für die betroffenen Menschen und ihre Angehörigen auch zum „Lotsen“ durch die medizinischen Versorgungslandschaft werden. Hier bietet das neue Versorgungsstrukturgesetz Raum für Verbesserungen aus der Betroffenen-Sicht. So soll gemäß Paragraf 116b des Sozialgesetzbuches 5 die Einrichtung möglicher spezialärztlicher Ambulanzen an Krankenhäusern schneller umgesetzt werden. „Wichtig ist vor allem die Verbesserung der Teilhabemöglichkeiten von Menschen mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen in allen Lebensbereichen. Noch sind längst nicht alle Menschen in der Mitte der Gesellschaft angekommen“, sagt Gerd Weimer, Beauftragter der Landesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen.

Der Umfang der am Tübinger Zentrum betreuten seltenen Erkrankungen hat sich in den ersten zwei Jahren deutlich vergrößert. Zusätzlich zu den bestehenden Spezialzentren wurde das Zentrum für seltenen kindliche Kiefer- und Gesichtsfehlbildungen (ZKFKG) in das ZSE integriert und das Zentrum für Neurofibromatosen (ZNF) neugegründet. Somit umfasst das ZSE Tübingen im Moment acht Spezialzentren, wobei geplant ist, die Tübinger Expertise im Bereich der ‚Seltenen‘ mit zusätzlichen Spezialzentren in den Bereichen der seltenen Tumore und der genetischen Lebererkrankungen auszubauen. Die bestehenden Spezialzentren, die beispielsweise in den Bereichen der seltenen neurologische Erkrankungen und Entwicklungsstörungen, seltenen Hauterkrankungen, seltenen Augenerkrankungen bzw. seltenen Infektionserkrankungen aktiv sind, haben seit der Gründung erste Erfolge feiern können. So nehmen zum Beispiel Ärzte und Wissenschaftler des ZSE an einer Therapiestudie zum Fragilen X Syndrom teil. Das Fragile X-Syndrom ist die häufigste Form erblicher geistiger Behinderungen, ausgelöst durch die Veränderungen eines Genes auf dem X-Chromosom. Mit der Studie soll eine entsprechende Medikation für diese Erkrankung getestet werden.

Das Zentrum für Seltene Erkrankungen weiß meist Rat

Das Übergeordnete Ziel des Tübinger Zentrums für Seltene Erkrankungen (ZSE) war und ist es, Patienten mit seltenen Erkrankungen fächerübergreifend und auf hohem Niveau zu versorgen. Auswärtige Ärzte können sich an die ZSE Ärztelotsin Frau Knöll wenden, wenn sie Rat suchen. Forschung, um für mehr seltene Erkrankungen Therapieoptionen zu entwickeln, ist ein weiteres Hauptziel des ZSE. Zur Ausbildung von medizinischen Studenten und Fortbildung von niedergelassenen Ärzten und Klinikern hat das Zentrum vor einem Jahr die erste deutsche Fortbildungsakademie für seltene Erkrankungen (FAKSE) gegründet.

Die Eröffnung des Zentrums war richtungweisend. Inzwischen gibt es in Berlin, Bonn, Frankfurt, Freiburg, Hannover, Heidelberg und Ulm sieben weitere „ZSE’s“, so dass ein deutschlandweites ZSE-Netzwerk langsam Form annimmt. Weitere universitäre Standorte wollen in der näheren Zukunft folgen.

Der Umfang der am Tübinger Zentrum betreuten seltenen Erkrankungen hat sich in den ersten zwei Jahren deutlich vergrößert. Zusätzlich zu den bestehenden Spezialzentren wurde das Zentrum für seltenen kindliche Kiefer- und Gesichtsfehlbildungen (ZKFKG) in das ZSE integriert und das Zentrum für Neurofibromatosen (ZNF) neugegründet. Somit umfasst das ZSE Tübingen im Moment acht Spezialzentren, wobei geplant ist, die Tübinger Expertise im Bereich der ‚Seltenen‘ mit zusätzlichen Spezialzentren in den Bereichen der seltenen Tumore und der genetischen Lebererkrankungen auszubauen. Die bestehenden Spezialzentren, die beispielsweise in den Bereichen der seltenen neurologische Erkrankungen und Entwicklungsstörungen, seltenen Hauterkrankungen, seltenen Augenerkrankungen bzw. seltenen Infektionserkrankungen aktiv sind, haben seit der Gründung erste Erfolge feiern können. So nehmen zum Beispiel Ärzte und Wissenschaftler des ZSE an einer Therapiestudie zum Fragilen X Syndrom teil. Das Fragile X-Syndrom ist die häufigste Form erblicher geistiger Behinderungen, ausgelöst durch die Veränderungen eines Genes auf dem X-Chromosom. Mit der Studie soll eine entsprechende Medikation für diese Erkrankung getestet werden.

Seit Dezember letzten Jahres bietet das ZSE als erstes ZSE in Deutschland eine Sozialberatung für Menschen mit seltenen Erkrankungen an. Wie gehen ich und meine Familie mit meiner neuen Situation um? Woher bekomme ich einen Rollstuhl? Wer bietet mir finanzielle Unterstützung und wo muss ich diese beantragen? Welche Reha-Einrichtung ist für mich geeignet und wie bekommt man dort einen Platz? Diese und ähnliche Fragen, beantwortet ab sofort eine speziell für die seltenen Erkrankungen angestellte Sozialberaterin. Dadurch erhalten die ‚Seltenen‘ die Unterstützung, die bei Patienten mit einer häufigeren Erkrankung schon längst zum Standard gehört.

Auch in den nächsten Jahren wird sich das ZSE Tübingen weiter entwickeln: gegenwärtig arbeiten Ärzte des Zentrum zusammen mit auswärtigen Partnern an der Konzeption einer Telemedizin-Lösung. Sowohl für die erstmalige Diagnose als auch für den Kontakt zwischen Arzt und Patient könnte derart die oftmals große geografische Distanz zwischen Patient und Experten überbrückt werden. Viel ist bereits passiert, doch es muss auch noch sehr viel passieren, um Seltenen Erkrankungen besser begegnen zu können. www.zse-tuebingen.de

Weitere Informationen:

www.achse-online.de

www.lag-selbsthilfe-bw.de

www.zse-tuebingen.de

www.rarediseaseday.org

Beispiele seltener Erkrankungen aus der Praxis des Tübinger Zentrums für Seltene Erkrankungen (ZSE)


Ataxie - Oberbegriff für verschiedene Störungen der Bewegungskoordination

Unter dem Begriff ‚Ataxie‘ versteht man genetisch und nicht genetisch bedingte Degenerationskrankheiten des Nervensystems, bei denen Ataxie das Hauptsymptom ist. Hierbei handelt es sich um Erkrankungen, bei denen es zu einem allmählich fortschreitenden Funktionsverlust von bestimmten Teilen des Nervensystems kommt. Häufig sterben hierbei auch Nervenzellen ab. Ataxien betreffen insbesondere das Rückenmark und das Kleinhirn. Ataxien sind Erkrankungen, die durch unsicheren Gang, Feinmotorikstörungen, verwaschenes Sprechen und Augenbewegungsstörungen gekennzeichnet sind. Im Zentrum für seltene Neurologische Erkrankungen und Entwicklungsstörungen (ZSNE) in Tübingen werden Ataxien behandelt und erforscht.

Xeroderma Pigmentosum

Xeroderma pigmentosum oder kurz XP ist eine sehr seltene, erblich bedingte Hautkrankheit, bei der UV-Licht die Erbsubstanz (DNA) in den Hautzellen schädigt. Das führt bei den Betroffenen schon in frühster Kindheit zu der Ausbildung zahlreicher, meist bösartiger Hauttumoren an den sonnenexponierten Körperstellen wie Gesicht, Kopf, Nacken, Oberarme und Händen. Diese Hauttumoren verursachen meist gravierende Entstellungen und bedingen häufig einen frühzeitigen Tod. Im Zentrum für Seltene Hauterkrankungen (ZSH) in Tübingen können die Betroffenen behandelt und neue Therapieverfahren erforscht werden.

Pierre-Robin-Sequenz

Die Robin Sequenz ist charakterisiert durch einen kleinen Unterkiefer, eine zurückliegende Zunge und manchmal durch eine Gaumenspalte. Dies führt zu schweren Atmungsbehinderungen und Wachstumsstörung, im schlimmsten Fall auch zum Tod. Für Deutschland gibt es bisher keine Angaben zur Häufigkeit dieser Erkrankung. Es gibt einige wenige meist sehr aggressive Behandlungsansätze, deren Wirksamkeit bislang meist nicht durch objektive Verfahren geprüft wurde. Im Zentrum für seltene kindliche Kiefer- und Gesichtsfehlbildungen (ZKFKG) wird diesen Kindern mit der Tübinger Gaumenplatte minimalinvasiv geholfen.

Mukoviszidose

Mukoviszidose (lat. Mucus „Schleim“ und viscidus „zäh, klebrig“) oder zystische Fibrose (engl. cystic fibrosis CF) ist eine genetisch bedingte, also angeborene Stoffwechselerkrankung. Bei Menschen mit dieser Erkrankung ist durch die Fehlfunktion von Chloridkanälen die Zusammensetzung der Absonderungen der im Körper vorhandenen Drüsen verändert. Besonders problematisch sind die auftretenden Lungenschädigungen und die damit verbundenen Komplikationen. Dank intensiver Forschung – auch im Tübinger Comprehensive Cystic Fibrosis Center (CCFC)- hat sich die mittlere Lebenserwartung von Patienten mit dieser Erkrankung inzwischen auf rund 35 Jahre erhöht.

Erbliche Netzhautdegenerationen

Die häufigste Erblindungsursache junger Erwachsener sind erbliche Netzhauterkrankungen, wie z.B. Retinitis Pigmentosa. Bisher wurden über 190 verschiedene Gene identifiziert, deren Mutationen für die unterschiedlichen Formen von erblichen Netzhauterkrankungen verantwortlich sind. Retinitis pigmentosa (RP) ist die Bezeichnung für eine Gruppe von erblichen Augenerkrankungen, die eine Zerstörung der Netzhaut (Retina), des sehfähigen Gewebes am Augenhintergrund, zur Folge hat. Diese Erkrankungen sind dadurch gekennzeichnet, dass meistens im Jugendalter oder in den mittleren Lebensjahren Nachtblindheit eintritt, das Gesichtsfeld sich anschließend verengt, Kontrast- und Farbsehen, später auch die Sehschärfe sich verschlechtern, so dass die Sehkraft allmählich nachlässt, nicht selten bis hin zur Erblindung. Betroffene Patienten werden im Tübinger Zentrum für seltene Augenerkrankungen (ZSA) behandelt.