Dommaraju Gukesh ist der jüngste Spieler im Schach-WM-Kandidatenturnier seit Bobby Fischer 1959. Foto: IMAGO/Wienold/IMAGO/Norbert Wienold

Die Sportart boomt in der südasiatischen Riesenrepublik dank der lebenden Legende Viswanathan Anand – das macht sich auch beim WM-Kandidatenturnier in Toronto stark bemerkbar.

Niemand leidet am Schachbrett so schön wie Vidit Gujrathi. Im kanadischen Toronto ist der 29-jährige Inder einer der acht Kandidaten, die sich im „offenen“ Turnier, de facto im Männerturnier, um das Recht bemühen, Herausforderer des chinesischen Weltmeisters Ding Liren zu werden. In der Partie gegen Jan Nepomniachtchi war es mal wieder so weit. Vier Stunden lang wehrte Gujrathi sich zäh gegen seinen russischen Konkurrenten, dann griff er in Zeitnot doch fehl. Als er es bemerkte, begann ein herzzerreißendes Schauspiel. Das Ringen der Hände, der leere Blick ging in die Weite des Saales, dann bohrte er sich ins Schachbrett, als ließe sich doch noch ein Ausweg finden. Vergebens. Der Kopf verschwand in den Händen. Kein Shakespeare-Schauspieler kann der Verzweiflung beeindruckendere Posen abgewinnen.

Vidit Gujrathi weiß um die Bedeutung der Niederlage, die zwar noch früh im Turnier, in der vierten von 14 Runden, erfolgte. Aber er kennt die Stärke der Konkurrenz, denn sie ist jung – und kommt aus dem eigenen Land. Indien stellt drei der acht Bewerber um den WM-Kampf. Mit dem 18-jährigen Praggnanandhaa Rameshbabu, in der Szene nur „Pragg“ gerufen, und dem noch um ein Jahr jüngeren Dommaraju Gukesh im Rücken spielt Gujrathi vielleicht um seine einzige realistische Chance auf höchste Ehren. Gukesh ist der jüngste Teilnehmer am Kandidatenturnier seit dem legendären Amerikaner Bobby Fischer 1959.

Viswanathan Anand ist der Auslöser des Schachbooms

Das zeigt die Wucht, mit der die indische Schachnation nach den Sternen greift. Die Qualität an ihrer Spitze ist mittlerweile breit. Die beiden in der Weltrangliste zurzeit bestplatzierten indischen Spieler, Erigaisi Arjun und der mehrfache Ex-Weltmeister Viswanathan Anand, haben erst gar nicht den Sprung nach Toronto geschafft.

Anand ist in seiner Heimat eine lebende Legende. Der 54-Jährige, der selbst kaum noch aktiv spielt, ist Auslöser des Schachbooms in der südasiatischen Riesenrepublik. Welche immense Popularität die Sportart dort hat, ließ sich 2022 bei der Schacholympiade in Chennai besichtigen, bei der die indischen Teams sowohl im offenen Turnier als auch bei den Frauen Bronze gewannen.

Allgemein wurde damit gerechnet, dass Praggnanandhaa Rameshbabu die heißeste indische Wette in Toronto sein würde. Er qualifizierte sich im vergangenen Sommer durch seine Finalteilnahme beim World-Cup in Baku dafür. Sensationellerweise gelang auch seiner 23-jährigen Schwester Vaishali bei den Frauen der Sprung ins Kandidatenturnier – die beiden sind das erste Bruder-Schwester-Paar der Schachgeschichte mit Großmeistertitel.

Jan Nepomniachtchi ist der Mann, den es zu schlagen gilt

„Pragg“ spielt in Toronto mutiges und kreatives Schach, musste aber schon einmal bitter für sein forsches Spiel bezahlen – ausgerechnet gegen Dommaraju Gukesh, der einen Topstart hingelegt hat. Nach dem Sieg hielt er gegen den Amerikaner Fabiano Caruana und Nepomniachtchi das Remis. Gukesh, so hat es nach den ersten Runden den Anschein, ist nun Indiens große Hoffnung.

Die indischen Himmelsstürmer müssen sich in Toronto gegen ein Trio von Routiniers bewähren. Caruana agierte einst in einem WM-Match auf Augenhöhe mit Magnus Carlsen, der sich mittlerweile nicht mehr um die Schachkrone bemüht, aber immer noch der stärkste Spieler der Welt ist. Er spielt bislang unspektakulär, aber grundsolide. Dagegen musste der mitfavorisierte zweite US-Amerikaner Hikaru Nakamura, wegen seiner umfangreichen Streaming-Aktivitäten ein großer Fanliebling, bereits einmal – gegen Vidit Gujrathi – die Niederlage quittieren.

Es scheint, als sei Jan Nepomniachtchi der Mann, den es zu schlagen gilt. Er hinterlässt bis jetzt einen superstarken Eindruck. Sollte er gewinnen, wäre es sein dritter Triumph in einem WM-Kandidatenturnier hintereinander.