Vor allem Ukrainerinnen beginnen mitten im Krieg mit dem Wiederaufbau. Sie planen neue Siedlungen. Was die Hochschule der Technik in Stuttgart damit zu tun hat – und woher die Zuversicht der Frauen kommt.
Es ist kalt in der Ukraine. Die Winter sind lang, schneereich und sonnenarm. Die Tageshöchsttemperatur in Kiew liegt um null Grad, nachts sinkt sie bis weit unter die Frostgrenze. Von Westen her pfeift der Wind scharf gegen die behelfsmäßigen Container, die 40 Familien rund 40 Kilometer von Kiew entfernt auf einem Stück Land unweit des Dorfs Trebukhiv aufgestellt haben. Die Menschen, die hier leben, haben alles verloren. Sie kommen aus dem 700 Kilometer entfernten Bachmut.
Es ist kalt in der Ukraine. Es herrscht Krieg. Infolge des russischen Überfalls wurde Bachmut von Mai 2022 an zum Kriegsschauplatz. Vor dem Krieg gab es hier 74 000 Einwohner, jetzt sind es noch 500 Zivilisten, die ausharren. Die Stadt ist zerstört.
Die 40 Familien – vor allem Frauen, Kinder, alte Menschen und Kriegsuntaugliche – frieren in diesem langen kalten Winter. Sie haben das Stück Land, auf dem die Container stehen, günstig erstehen können. Neben dem Grundstück liegt ein See, der vor 20 Jahren sich selbst überlassen wurde und völlig verschlammte. Mit den örtlichen Behörden konnten die rund hundert Menschen eine Vereinbarung treffen. Sobald der Schnee geschmolzen war, packten alle an und machten das Schlammloch wieder zum See. Den dürfen sie jetzt nutzen.
Der Frühling kehrt langsam ein in das geschundene Land, zumindest der meteorologische und kalendarische. Der Krieg geht weiter. Doch die 100 Menschen auf ihrem Stückchen Land tragen Hoffnung und Zuversicht in sich. Nicht zuletzt auch wegen der aus Kiew stammenden Genya Moore.
Die Tochter des sowjetischen Architekten Radomir Yukhtovsky studierte selbst Architektur, arbeitet aber seit 25 Jahren im Bereich Marketing. In den 70er und 80er Jahren plante ihr Vater das Stadtzentrum des Städtchens Okhtyrka im Norden der Ukraine neu – im Zweiten Weltkrieg war es von den Deutschen besetzt worden. „Meine Mutter sagte immer, dass mein Vater mit Okhtyrka verheiratet ist und nicht mit ihr. Weil er so viel Zeit in dieses Projekt steckte.“
In der Ost-Ukraine wurden 170 000 Wohngebäude vernichtet
Als die Stadt 2022 von Russland beschossen und fast vollständig zerstört wurde, beschloss Genya Moore, dafür zu sorgen, dass sie wieder aufgebaut wird. Sie wollte von ihren Kenntnissen und Kontakten in beiden Themengebieten Gebrauch machen. Die Idee der 53-Jährigen war es, Architekturstudentinnen von ukrainischen und europäischen Universitäten zusammenzubringen – um nicht nur Okhtyrka, sondern generell Siedlungen und kleine Städte wieder aufzubauen, die durch den Krieg zerstört wurden. Gebaut werden soll nach europäischem Standard, besonders dem der Nachhaltigkeit. „Re:Life Ukraine“ nannte Moore das Projekt. Phineo startups, eine gemeinnützige Aktiengesellschaft, unterstützt ihre Idee.
Auch die Politik der Ukraine setzt auf Wiederaufbau. Bis Oktober 2023 wurden im Osten des Landes 170 000 Häuser mit 2,5 Millionen Wohnungen, 3400 Bildungseinrichtungen sowie Gebäude für Gesundheit, Sport und Kultur im Wert von fast sechs Milliarden Euro vernichtet. Viele Verantwortliche in der Ukraine gehen davon aus, dass die betroffenen Gebiete auf absehbare Zeit für Ukrainer nicht mehr bewohnbar sind. Aus diesem Grund sollen für die geflüchteten Menschen in „sicheren“ Teilen des Landes, insbesondere im Westen, neue Dörfer und Städte entstehen.
Der Wiederaufbau großer Städte und deren Infrastruktur ist durch nationale Regierungsprogramme und internationale Investitionen weitgehend gesichert. Auch Deutschland stellte seit Beginn des russischen Angriffskrieges rund eine Milliarde Euro für die zivile Unterstützung zur Verfügung. Der Aufbau von kleinen Gemeinden und ländlichen Strukturen dagegen ist nicht ausreichend finanziert. Das bekommen die Menschen aus Bachmut auf ihrem neuen Stück Land zu spüren. „Viele von ihnen stammen aus der Region um Donezk und flohen während der Gefechte im Jahr 2014. Es ist für sie jetzt das zweite Mal, dass sie ihr Zuhause verloren haben“, sagt Genya Moore. Sie stellte den Kontakt mit Studentinnen der Nationalen Akademie der Bildenden Künste und Architektur in Kiew her. Sie sollen den Menschen helfen, den Bau des neuen Dorfs zu planen.
Für das Pilotprojekt brauchen sie aber auch eine europäische Partner-Uni, um sich über europäische Standards informieren zu können. Moore, die seit Beginn des Krieges in Berlin lebt, wandte sich im Dezember 2023 an die Hochschule für Technik in Stuttgart. „Uns war internationaler Austausch schon immer wichtig“, sagt Diane Ziegler, Dozentin beim Bachelor-Studiengang Innenarchitektur in Stuttgart. Und so musste man sie nicht lange von einer Kooperation überzeugen. „Wir haben gesagt: Wir können nicht nach Kiew kommen, aber euch zu uns einladen“, erzählt Ziegler. Zu dem Zeitpunkt sei die Finanzierung der Zusammenarbeit noch unklar gewesen. Aber der Wille, das Projekt zu wagen, umso klarer.
„Die Ukrainer brauchen nicht nur Häuser, sondern eine komplette Infrastruktur“
Im März war es jetzt soweit: Ein gutes Dutzend Studentinnen aus Kiew – Männern wurde die Ausreise verboten – kamen hier an. Zusammen mit Stuttgarter Studenten aus den Fächern Architektur, Innenarchitektur und Klima Engineering sowie drei Dozenten starteten sie ihren Workshop.
Die Aufgabe: auf dem Stück Land der 40 Familien eine Siedlung planen. „Sie brauchen nicht nur Häuser, sondern eine komplette Infrastruktur mit Werkstätten, Kindergarten, Supermarkt – damit dort auch Arbeitsplätze entstehen können“, sagt Diane Ziegler. Allen Beteiligten war bewusst, dass „man nicht im reinen Hochschul-Kontext“ bleiben kann: „Die Studentinnen müssen im Zusammenschluss mit den 40 Familien, von denen vorrangig nur die Frauen vor Ort sind, einen Teil der Ukraine wiederaufbauen – fast wie bei uns damals die Trümmerfrauen“, sagt Diane Ziegler. Die Zeit drängt. Schließlich sind viele Kinder betroffen, die in gesicherten Lebensräumen aufwachsen sollen. Man baut auch gegen Traumata an. Und gegen das Risiko einer erneuten Zerstörung.
Ein großes Anliegen ist allen Beteiligten, dass Baumaterialien wiederverwendet werden. In der Ukraine gibt es ja mehr als genug Trümmer. Diese zu verwenden ist ressourcenschonend, zeitsparend und kostengünstig. Was schon die Trümmerfrauen in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg aus schlichtem Mangel an Optionen machten, gilt heute zugleich als nachhaltig. „Auch psychologisch gesehen ist es positiv, dass etwas, das man aus Ruinen aufbaut, wieder Teil von einem wird“, sagt Diane Ziegler.
Die Studentinnen aus Kiew hatten einen ersten Plan mitgebracht. Darauf zu sehen ist das Stück Land, säuberlich aufgeteilt in 40 Parzellen. Auf jeder steht mit so viel Abstand zum Nachbarn wie eben möglich ein Einfamilienhaus. „Einfamilienhäuser können aber nicht die Lösung sein“, sagt Diane Ziegler. „Schließlich ist ganz generell nicht auszuschließen, dass die Ukraine einen Teil ihrer Fläche verliert. Dann ist Verdichtung vonnöten – aber eine qualitätvolle.“ Auch andere Materialien müssten her, etwa Holz oder Lehm. Und auch an Systembau sei wegen des Zeitdrucks zu denken.
Identität wahren – und gleichzeitig von europäischen Ideen profitieren
Den Ukrainern ist ihr Einfamilienhaus wichtig, allein wegen des Gartens drumherum. Der garantiert einen Teil ihrer Lebensgrundlage. „Die Kunst ist es nun, den Menschen unser Wissen zu vermitteln und sie dadurch zu überzeugen, aber ihnen auch zuzuhören“, sagt Ziegler. Die ukrainischen Studentinnen Kristina Rodrihes und Daria Horbachova fassen die Herausforderung so zusammen: „Wir müssen unsere Identität, unsere Kultur und unser Erbe zu wahren – und gleichzeitig von europäischen Ideen profitieren.“
Gemeinsam beschloss man, die Bedürfnisse der Familien abzufragen: In einer Live-Schalte mit Trebukhiv lernten alle Beteiligten einander kennen und sprachen auch schon über erste Details, etwa die Möglichkeit eines Gemeinschaftgartens. „Wir wollen wissen, was die Menschen in der Ukraine wichtig ist – wir können ihnen nur etwas anbieten“, sagt die angehende Innenarchitektin Michelle Müller-Trudrung aus Stuttgart.
Besonders wichtig ist den Studentinnen aus der Ukraine, Wissen in Klima Engineering zu sammeln, einem Fachbereich, den es in Kiew so nicht gibt. „Wir haben das Thema nur kurz in einem Semester angesprochen. Dabei ist es aber super wichtig, dass man ein Bauprojekt mit einer Analyse beginnt“, sagt die Studentin Viktoriia Liushchenko. Jan Hartung, der in Stuttgart Klima Engineering studiert, weiß, wie man aus Daten über Jahrestemperatur-Verläufe, Windverhältnisse, Sonneneinstrahlung Möglichkeiten der Gebäudeplanung ableitet. Für die Häuser der 40 Familien in Trebukhiv wäre etwa ein Windschutz elementar.
Vieles, sehr vieles steht noch an, bevor die Familien ein neues Zuhause haben werden. Die Kooperation soll weitergehen, etwa mit Live-Übertragungen von Klima-Engineering-Seminaren. Doch eines ist bereits zu einem guten Ende gekommen. Auf dem See, der nun frei von Schlamm ist, landete vor kurzem ein Schwanenpaar. Die beiden wollen offenbar bleiben. Für Genya Moore „ein wunderschönes Symbol dafür, wie das Leben in mein Land zurückkehren kann“.