Sieht idyllisch aus, doch eine pure Idylle ist der Heuberg nicht unbedingt. Foto: Brehm

Ingo Brehm ist seit 20 Jahren als Schulsozialarbeiter auf dem Heuberg tätig – seine Schulen finden sich in Gosheim und Wehingen, die ebenso von Schülern aus Wellendingen, Wilflingen und Frittlingen besucht werden. Er sieht die Zeit gekommen für eine kritische und durchaus provokative Bestandsaufnahme

Ingo Brehm schreibt: „Der Heuberg: Landschaftliches Idyll, prosperierende Gemeinden, eine starke Industrie, nahezu Vollbeschäftigung, hervorragende Infrastruktur. Hier scheint die Welt noch in Ordnung zu sein? Ein klares Nein.

Auch hier gibt es Gewalt gegen Kinder, vernachlässigte Kinder, Armut, sich nach Trennung erbittert streitende Eltern, gravierende Verhaltensauffälligkeiten, mit der Erziehung völlig überforderte Eltern, Schulabsentismus, psychische Auffälligkeiten..., die Liste ließe sich beliebig verlängern.

Bereits mehrmals ist mir der Wunsch zu Ohren gekommen, Sozialarbeit in den Kindergärten zu installieren. Dieser Wunsch geht leider nicht an der Realität vorbei. Er ist vielmehr Ausdruck dessen, was in unserer Gesellschaft schiefläuft. Und, ja, er ist absolut berechtigt. Fragen Sie gerne in den Kindergärten nach.

Erziehung überfordert immer mehr

Das berechtigte Streben nach Wohlstand in einer Gesellschaft, deren Wirtschaft rund um die Uhr läuft und weltweit agiert, hat seinen Preis. Dies wird nicht zuletzt beim Blick auf Kinder und deren Eltern deutlich: Immer mehr Kinder lassen einfache Grundprinzipien des gesellschaftlichen Miteinanders vermissen.

Eine zunehmende Zahl von Kindern ist mehr oder weniger grenzenlos unterwegs. Es fehlt an Höflichkeit, an Respekt, an Toleranz. Augenscheinlich wird in immer mehr Haushalten auf die Vermittlung dieser, für das gesellschaftliche Fortkommen essentiellen Grundtugenden verzichtet.

Das Fehlen einfacher Rituale

Teilweise, weil Eltern diese Eigenschaften selbst nicht erlernt haben. Häufig aber deshalb, weil bei Eltern hierfür die Kraft fehlt. Denen es häufig nur noch mühsam gelingt, den Spagat zwischen Erziehung und Berufstätigkeit zu meistern, oder die daran scheitern.

Einfache Rituale finden immer weniger statt. Die tägliche gemeinsame Mahlzeit beispielsweise. Nicht aus Interesselosigkeit, sondern schlicht deshalb, weil es die gemeinsame Anwesenheit aller Familienmitglieder häufig gar nicht mehr gibt. Ich kenne viele Eltern, die in gegenläufigen Schichten arbeiten und sich häufig nur noch die Klinke in die Hand geben.

Die „kleinen Fernseher“

Großes Thema in vielen Familien ist die Nutzung von Medien. Die Nutzung derselben ist bei vielen Kindern – und Erwachsenen – oft nicht begrenzt; trotz zahlreicher Aufklärungsveranstaltungen in Schulklassen oder aber bei Elternabenden – wobei dort dann oft gerade diejenigen fehlen, die es brauchen würden.

Abfragen in Schulklassen jüngerer Jahrgangsstufen, die ich immer wieder mal mache, zeigen, dass die Handynutzung nur bei einer Minderheit mittels Jugendschutz-Apps kontrolliert und reglementiert wird.

Kinder sind ein Spiegel unserer Gesellschaft. Ganz ehrlich, da wird mir zeitweise ganz schön mulmig.

Inkonstante Bildungspolitik

Sichtbar werden auch die Ergebnisse einer immer nur auf die jeweilige Wahlperiode angelegten Bildungspolitik der vergangenen Jahrzehnte. Genannt seien hier: Schwächung der Hauptschulen durch permanente Auflösungsdiskussionen, Schwächung der Realschulen durch Implementierung des Hauptschulabschlusses (G-Niveau), überstürzte Inklusion mit zu wenig Fachpersonal, individualisierter Unterricht („Jeder in seinem Tempo“) mit zu wenig Lehrkräften, planlose Integration von Kindern ohne deutsche Sprachkenntnisse…

Dass unsere Kinder „bildungstechnisch“ nur noch Mittelmaß sind, hat auch mit fragwürdigen Entscheidungen einer inkonstanten Bildungspolitik zu tun.

Sündenbock Schule

Entscheidungen der Bildungspolitik müssen die Schulen mit Inhalt füllen und taugen damit wunderbar zum Sündenbock. Das Schimpfen auf die „faulen“ Lehrkräfte ist zum Volkssport geworden.

Dass Lehrkräfte nicht nur bildungspolitische Vorgaben umsetzen müssen – als Beispiel sei genannt das Unterrichten nach G- und M-Niveau an Realschulen –, sondern auch immer mehr mit den Ergebnissen fehlender elterlicher Unterstützung konfrontiert werden, wird oftmals gar nicht wahrgenommen.

Ich empfehle jedem Ausbilder der – durchaus zurecht – die oft nicht vorhandene Ausbildungsreife von jugendlichen Schulabgängern bemängelt, einen Blick in die Realität unserer Schulen. Schauen Sie sich gerne die Abschlussklassen an.

Blick in Grundschulen

Richtig interessant aber wird es beim Blick in die Grundschulen: Es ist nicht zu fassen, wie wenig elterliche Erziehung manche Kinder mitbringen, wenn sie in ihre Schullaufbahn starten.

Während manche zu wenig bekommen, erhalten andere zu viel. Stichwort Helikopter. Wenn Kinder keinerlei negative Erfahrungen machen dürfen. Nicht mehr lernen, zu verlieren. Es entwickeln sich Menschen mit gering ausgeprägter Frustrationstoleranz, denen jegliches Hindernis aus dem Weg geräumt wird.

Weg vom Thema, aber doch passend: Dass im Kindersport – Bundesjugendspiele, Jugendfußball – nunmehr immer alle gewinnen sollen, für mich unerklärbar.

Und jetzt?

„Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr.“ Wenn also immer mehr Eltern weniger Erziehungsarbeit zu leisten im Stande sind, muss dieses Fehlen kompensiert werden. Frühkindliche Bildung muss wichtiger werden und benötigt absolute Priorität. Die hier geleistete Bildungs- und Sozialarbeit ist für die künftige Entwicklung unserer Gesellschaft von allergrößter Bedeutung.

In diesem Zusammenhang halte ich die Einführung eines Kindergartenpflichtjahres für absolut sinnvoll, ebenso die Abschaffung von Kindergartenbeiträgen.

Schulsozialarbeit Heuberg sucht Mitstreiter

Ich habe nunmehr sehr deutlich zum Ausdruck gebracht, dass bei uns, nach meinem Empfinden, einiges schiefläuft.

Die funktionierende Mitte, in der mit gesundem Menschenverstand gelebt und Erziehung geleistet wird, schrumpft. Nicht nur mich stimmt die derzeitige Entwicklung nachdenklich. Auch meine Kolleginnen der Schulsozialarbeit Heuberg – Yvonne Kalmbach und Carmen Haischer – machen ähnliche Erfahrungen.

Schulsozialarbeiter Ingo Brehm spricht die Wirklichkeit auf dem Lande an. Foto: Brehm

Statt nun den Kopf in den Sand zu stecken, haben wir beschlossen, mit einem Projekt aktiv gegenzusteuern: Wir planen die Bildung eines Teams, bestehend aus interessierten Persönlichkeiten, die sich zum Thema Kindererziehung einbringen möchten.

Was geplant ist

Angedacht ist, aus den Ideen dieses Teams regelmäßig verschiedene Veranstaltungen auf den Weg zu bringen: Workshops, Elterncafé, Expertenabende…

Ein erstes Treffen beginnt am Montag, 6. Mai, um 18.30 Uhr im rosa Gebäude der Juraschule in Gosheim. In gemütlicher Runde wird über das Vorhaben informiert.“

Anmeldung wird erbeten: schulsozialarbeit.kalmbach@web.de

Der Autor dieser Zeilen heißt Ingo Brehm und ist Schulsozialarbeiter in Gosheim und Wehingen.