Philipp ist mit der genetischen Erkrankung Osteogenesis Imperfecta auf die Welt gekommen – auch Glasknochenkrankheit genannt – und sollte dringend operiert werden. Foto: privat/Palm

Der neunjährige Philipp muss an der Wirbelsäule operiert werden – sonst drohen gesundheitliche Probleme. Doch die Warteliste für Operationen in der Kinder- und Jugendorthopädie wird immer länger. Jetzt schlagen die Ärzte in Stuttgart Alarm.

Philipp ist neun Jahre alt, ein pfiffiger Junge im Rollstuhl, der schon viel Mut und Geduld in seinem Leben aufbringen musste. Zig mal musste der Schüler schon im Klinikum Stuttgart behandelt werden, seine Eltern nennen die Räumlichkeiten im Olgäle schon ihr „zweites Zuhause“.

 

Und eigentlich wäre es schon wieder Zeit, dorthin umzuziehen: Denn Philipp ist mit der genetischen Erkrankung Osteogenesis Imperfecta auf die Welt gekommen – auch Glasknochenkrankheit genannt – und müsste dringend operiert werden. Aufgrund seiner instabilen Knochen hat er eine starke Wirbelsäulenverkrümmung und sein Oberkörper sinkt zusammen. Er hat daher schon mit erheblichen Atembeschwerden zu kämpfen. „Jetzt braucht unser Sohn ein Auseinanderziehen der Wirbelsäule über vier Wochen und dann eine stabilisierende Wirbelsäulen-OP um wieder besser Luft zu bekommen“, sagt seine Mutter Stefanie.

Die Wartezeit belastet die Familie

Ein schwerer Eingriff – der aber in Stuttgart auf sich warten lässt: Den ersten freien Termin kann das Olgahospital der Familie erst im September 2024 anbieten – vielleicht auch früher, wenn ein anderes Kind von der OP-Liste abspringt. Dann aber müsse man schnell und spontan handeln.

Zwei Attribute, die für eine Familie mit einem körperbehinderten Jungen schon im Alltag schwer zu vereinen sind: „Natürlich handelt es sich nicht um eine Operation, die über Leben und Tod entscheidet“, sagt die Mutter. Aber über Lebenszeit und Lebensqualität – nicht nur für Philipp, sondern für die ganze Familie: „Die Organisation rund um so eine Operation muss ja auch immer geleistet werden.“ Wer bleibt bei dem Jungen in der Klinik? Wer versorgt das Geschwisterkind zuhause? Unterstützt der Arbeitgeber die Krankenzeit oder müssen die Eltern unbezahlten Urlaub nehmen? Stefanie Palm seufzt: „Unser Kopf kommt selten zur Ruhe.“

Nur zwei Wirblsäulen-OPs pro Woche

Im Klinikum Stuttgart kennt Thomas Wirth die Sorgen der Familie zu gut. Seit Jahren behandelt der Ärztliche Direktor der orthopädischen Klinik am Olgahospital den kleinen Jungen – und würde ihn sofort operieren, so wie viele andere Patienten auch, die wie Philipp auf eine Behandlung warten.

Nur erlauben es die Strukturen nicht: 2500 Operationen fallen im Jahr für das Team um Thomas Wirth an. „Wir können uns aktuell nur auf eine maximal zwei Wirbelsäulenoperationen in der Woche konzentrieren“, sagt Wirth. Kinder wie Philipp, deren Operation zwar notwendig, aber zeitlich nicht an den Tag gebunden ist, müssen daher Wartezeiten in Kauf nehmen. „Zwölf Monate sind da leider inzwischen die Regel.“

Fachbereiche in der Kinderheilkunde sind seit Jahren unterfinanziert

Die Probleme in der Kinder- und Jugendorthopädie sind nicht hausgemacht: Seit Jahren schon ist dieser Fachbereich – wie die gesamte Kinderheilkunde auch – ein Minusgeschäft: Schlicht, weil der Aufwand für die kleinen Patientinnen und Patienten sehr hoch ist, die aufwendige medizinische Versorgung jedoch nicht bezahlt wird. Die Folge: Krankenhäuser verkleinern ihre pädiatrischen Abteilungen oder schließen sie.

Philipp im Untersuchungszimmer mit dem Orthopädie-Experten Thomas Wirth. Foto: privat

OP-Wartezeiten an spezialisierten Zentren von bis zu einem Jahr für die Therapie von Fehlstellungen kündigen die Verknappung der Ressourcen bereits jetzt schon alarmierend an, warnt die Deutsche Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie (DGOU). „Wenn gesundheitspolitisch nicht gegengesteuert wird, droht eine Unterversorgung im kinderorthopädischen Bereich“, sagt der DGOU-Präsident Maximilian Rudert.

Das Problem trifft auch niedergelassene Kinderärzte

Und nicht nur schwerkranke Fälle wie Philipp werden davon betroffen sein: Burkhard Lembeck, Präsident des Berufsverbandes für Orthopädie und Unfallchirurgie (BVOU) ist sich sicher, dass bald jede Familie den Mangel spüren wird. Denn die Misere betrifft auch niedergelassene Ärzte: Die Sonografie der Säuglingshüfte – Teil einer jeden U3-Untersuchung – sei ein gutes Beispiel dafür, sagt Lembeck.

Diese Untersuchung erfordert viel Zeit, da das Baby während des Ultraschalls beruhigt werden muss und die Eltern eingebunden sind. „Solch eine ressourcenaufwendige Untersuchung wird aber mit nur 20 Euro vergütet.“ Unter diesen Voraussetzungen sei es kein Wunder, dass die Zahl der Kinderärzte mit orthopädischer Weiterbildung sinke.

Kinder aus dem gesamten Bundesgebiet werden nach Stuttgart verlegt

Das Olgahospital Stuttgart, das als Maximalversorger gilt, bekommt diese Entwicklung seit Jahren besonders zu spüren: In Baden-Württemberg gibt es außer der Fachabteilung von Thomas Wirth keine vergleichbare Einrichtung mehr. „Selbst in Unikliniken wie Tübingen, Heidelberg, Freiburg, Mannheim oder Ulm beschränkt sich die kinderorthopädische Versorgung eher auf Einzelpersonen“, sagt Wirth. In den Nachbarbundesländern sieht es nicht viel besser aus. Erst am Vormittag habe er mit einer Kollegin aus einem anderen Bundesland telefoniert, die einen ihrer Patienten nach Stuttgart verlegen lassen wollte. „Die kinderorthopädische Ressource insbesondere am oberen Ende des Leistungsspektrums ist bedroht.“

Klinikchefs wehren sich gegen Reformpläne

Und diese Lage wird nach Befürchtungen des Klinikchefs Jan Steffen Jürgensen mit der Krankenhausreform noch zunehmen: „In vielen Bereichen der Erwachsenenmedizin wird die geplante Verdichtung zu mehr Qualität und mehr Wirtschaftlichkeit führen“, sagt er. Aber eben nicht in der Kindermedizin, wo die berechtigte Nachfrage so hoch ist: „Hier wäre es einfach klüger, auskömmlich zu vergüten und die Angebote zu stabilisieren.“ Eine entsprechende Petition mit mehr als 67 000 Unterschriften habe man dem Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach zukommen lassen.

Die vielleicht schwierigste Aufgabe wird es sein, den Pflegenotstand zu beseitigen. Dafür müssten die Arbeitsbedingungen verbessert werden – nicht nur mit mehr Gehalt, sondern auch in dem man den Pflegekräften mehr Zeit für die eigentliche Arbeit einräumt. „Dennoch ist es Fakt, dass sich in den kommenden Jahren der Notstand allein aufgrund des demografischen Wandels vergrößern wird“, sagt Jürgensen.

Philipp soll nun in Hamburg operiert werden

Eltern mit kranken Kindern können aber nicht warten: Stefanie Palm hat bundesweit nach früheren OP-Möglichkeiten gesucht – und ist in Hamburg fündig geworden. Das Altonaer Kinderkrankenhaus hat die einzig vergleichbare Expertise wie Stuttgart im Bereich der Wirbelsäulenchirurgie bei Kindern und Jugendlichen. „Da hieß es, wir könnten im Januar oder Februar kommen.“

Sechs Wochen wird Philipp in Hamburg sein. Der Eingriff ist komplex: Vor der OP muss die Wirbelsäule so gerade und lang wie möglich gezogen werden. Dazu muss Philipp vier Wochen im Krankenhaus ruhig liegen oder sitzen. Diese Prozedur muss nach erfolgreicher Operation für zwei Wochen wiederholt werden. Jedes halbe Jahr muss das System in einer OP nachoperiert werden. „Die ganze Prozedur ist ein Horror und macht uns Angst“, sagt die Mutter. „Aber Philipp will diesen Eingriff: ‚Damit ich ein besseres Leben habe’, wie er sagt.“