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Porträt / Barbara Richstein ist Regionalleiterin in der Stiftung Liebenau Teilhabe

"Wertschätzung". Dieses Wort fällt häufig, wenn man mit Barbara Reichstein spricht. Die Regionalleiterin der Stiftung Liebenau Teilhabe gGmbH kümmert sich darum, dass Menschen mit Behinderung ihren Platz in der Gesellschaft finden.

VS-Villingen. Wertschätzung, sagt die 50-Jährige, sei genau das, was Menschen mit Handicap in Deutschland am meisten vermissen, trotz Menschenrechtskonvention und Inklusion. "Es ist schon viel passiert", anerkennt sie, "aber noch nicht genug". Es sei immer noch nicht ganz normal, dass Menschen mit unterschiedlichen körperlichen, geistigen und seelischen Behinderungen Teil unserer Gesellschaft sind "und Wertschätzung erfahren". Das zu ändern, hat sie sich zur Aufgabe gemacht.

Sie stammt aus Wolterdingen

Barbara Reichstein stammt aus Wolterdingen und wuchs dort mit drei Geschwistern auf. Am Fürstenberg-Gymnasium in Donaueschingen legte sie 1987 das Abitur ab und fügte ein freiwilliges soziales Jahr (FSJ) in der Johanna-Schwer-Kindertagesstätte in Villingen an. Dort lernte sie Studenten des Studienganges "Soziale Arbeit" an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg (DHBW, damals noch "Berufsakademie") kennen. Sie bewarb sich bei der Stadt VS und erhielt einen Ausbildungsvertrag. Die jeweils drei praktischen Monate ihres Studiums absolvierte sie an der Kindertagesstätte am Kopsbühl, im Jugend- und im Sozialamt.

Im Sozialdienst der Stadt

Im Oktober 1991 erhielt sie eine der neu geschaffenen Stellen im Sozialdienst der Stadt. Mit Begeisterung unterstützte und begleitete Barbara Reichstein Sozialhilfeempfänger im Alltag, knüpfte Kontakte zu Kliniken, sozialen Einrichtungen und Vermittlungsstellen.

2005 war für sie ein Schicksalsjahr. Das städtische Sozialamt ging an den Landkreis über und "wir Sozialpädagogen waren übrig", erzählt sie. Eine nervenaufreibende Zeit für die verheiratete Mutter zweier Kinder begann. Eine vergleichbare Stelle in der Stadtverwaltung wurde aber nicht gefunden, schließlich saß sie an einem Schreibtisch im Grundbuchamt. Aber nur ein halbes Jahr später bekam sie von der St. Gallus-Hilfe, die über die Stiftung Liebenau ein Dorf für behinderte Menschen in Meckenbeuren unterhält, den Auftrag, am Standort Villingen einen familienunterstützenden Dienst und ambulant betreutes Wohnen für Menschen mit Behinderung aufzubauen. Vorangegangen war ein landesweiter Strukturwandel bei der Eingliederungshilfe mit der Folge, dass sich große Einrichtungen wie St. Gallus dezentralisierten und begannen, auch vorort ambulante Angebote zu schaffen. Barbara Reichsteins neue Stelle bewegte sich also auf Neuland und war zudem befristet.

"Dass ich nach 15 Jahren in städtischen Diensten diesen Schritt wagte, hat niemand verstanden, nicht einmal mein Mann", sagt sie und kann heute darüber lachen. Voller Tatendrang stürzte sie sich an der Seite von Erika Walter und Anja Büchner in die Arbeit. Was im Oktober 2005 mit einem Büro in der Färberstraße, einer ersten "Kundin" im betreuten Wohnen und Freizeitangeboten in der Feldner Mühle begann, setzte sich 2009 mit dem ersten integrativen Wohnprojekt in der Hochstraße fort, in dem heute Menschen mit und ohne Behinderung Wand an Wand leben und ambulant betreut werden.

Werkstatt kommt hinzu

2011 kam die Werkstatt in der Pontarlierstraße dazu und 2014 eine Erweiterung in der Prinz-Eugen-Straße. In diesen Werkstätten erledigen heute rund 50 Menschen mit Behinderung Sortier- und Montagearbeiten sowie einen internationalen Großauftrag für kleine bunte Wetterhäuschen. Diesem Bereich widmet sich Barbara Reichstein insbesondere. Einige ihrer Schützlinge konnte sie auch schon auf dem ersten Arbeitsmarkt unterbringen.

Seit diesem Jahr ist – in Kooperation mit der Baugenossenschaft Familienheim – in der Vom-Stein-Straße ein zweites Wohnprojekt entstanden. Parallel dazu entwickeln Barbara Reichstein, ihre Leitungskollegin Nicole Scherzinger sowie inzwischen einige Mitarbeiter auch in Tuttlingen entsprechende Angebote.

Umdenken gewünscht

"Ich kann niemandem seine Behinderung abnehmen", bedauert Barbara Reichstein. Aber sie könne Lebenswünsche ernst nehmen und helfen, sie so gut es geht umzusetzen. Sie wünscht sich entsprechende gesetzliche Rahmenbedingungen und ein Umdenken besonders im Bildungssystem, denn "normale Lehrer können Inklusion nicht leisten".

Barbara Reichstein ist Realistin. Sie weiß, dass es noch viel zu tun gibt. An Menschen, die dabei zu helfen bereit sind, mangelt es nicht. Und da ist es dann wieder – das Wort "Wertschätzung". Diesmal im Zusammengang mit den Menschen, die soziale Arbeit leisten und dafür gerecht entlohnt werden sollten.

Entspannung findet Barbara Reichstein daheim in Bräunlingen beim Lesen und Reisen. Großen Wert legen sie und ihre Familie auf gutes Essen, das sie selbst zubereitet, unter anderem im selbst gebauten Holzofen.