VfB-Kapitän Christian Gentner: Es ist zum Verrücktwerden Foto: Baumann

Das Einzige, was beim VfB Stuttgart derzeit funktioniert, ist das Aufstellen immer neuer Negativrekorde. Null Punkte nach vier Spielen, das gab es noch nie. Eine Bestandsaufnahme.

Berlin - Die Mannschaft: Kann sie es nicht besser? Oder will sie es vielleicht nicht besser? Wer die zweite Halbzeit im Berliner Olympiastadion gesehen hat, gelangt zu dem ernüchternden Fazit: Sich mit Händen und Füßen gegen die vierte Niederlage in Folge zu stemmen sieht irgendwie anders aus. Trainer Alexander Zorniger beschrieb das Vorgehen nach der Pause mit „Kopf durch die Wand“, doch das war freundlich umschrieben. Zornigers ergänzende Analyse traf schon eher zu. „Jeder wollte sein eigenes Ding machen.“

Ein Charakterproblem? Der VfB hat sicher keine Stinkstiefel in der Mannschaft. Aber von der Hingabe, mit der in der vergangenen Saison auf den letzten Drücker noch der Klassenverbleib gelang, waren in Berlin (wie schon beim 1:4 gegen Eintracht Frankfurt) nur noch Überbleibsel zu sehen. Der läppische Abschluss von Filip Kostic beim Stand von 0:1 war nur ein Beispiel von vielen. Beim 2:0 gegen den FSV Mainz am 32. Spieltag der Vorsaison zimmerte der Serbe eine ähnliche Vorlage noch mit voller Wucht und Leidenschaft unter die Latte.

Überhaupt Kostic: Dass man auch als Offensivspieler nach hinten verteidigen darf, scheint der Serbe auf dem Flug nach Berlin vergessen zu haben. Kurz vor der Halbzeit nötigte er Serey Dié zu einem Foulspiel (das zum 1:2 führte), worauf der Ivorer seinen Mitspieler am liebsten ungespitzt in den Rasen gerammt hätte. Einsicht? Fehlanzeige.

Der 22-Jährige haderte mehr mit sich, dem Gegner, den Kollegen und dem Fußballgott, als seine Stärken auf den Platz zu bringen. Viel fehlte nicht, und Kostic wäre (nach Frustfoul und Schwalbe) als dritter VfB-Spieler in dieser Saison vom Platz geflogen. Seit seinem verhinderten Wechsel zum FC Schalke, wo er das Vierfache hätte verdienen können, erinnert der Elan des Serben an den eines Wanderarbeiters.

Oder Christian Gentner: In Berlin ging der Kapitän mitsamt seiner Truppe auf Tauchstation. Von Führungsanspruch keine Spur, zumindest nicht auf dem Platz. Den bringt eher Serey Dié mit, doch dessen Nerven (siehe oben) liegen auch schon mehr oder weniger blank. Gleiches ließe sich über Daniel Didavi oder Daniel Ginczek sagen, denen der Frust über den Null-Punkte-Start ins Gesicht geschrieben steht.

Das System:  In Berlin ließ Zorniger die Mannschaft näher am eigenen Tor verteidigen. Im Angriff probierte er es mit nur einer Spitze (Ginczek); Martin Harnik sollte das Pressing im Mittelfeld erhöhen – doch vom Selbstvertrauen und der Euphorie, die den Österreicher seit seinen beiden Toren in Schweden und der erfolgreichen EM-Qualifikation mit Österreich begleiten müssten, war nichts zu sehen. Nach seinem Katastrophenspiel gegen Frankfurt begnügte sich Harnik mit Sicherheitsfußball, was auch nicht weiterhilft. Sein Landsmann Florian Klein konnte mit der Systemanpassung (4-1-4-1) wenig anfangen. „Wir sollten jetzt nicht in jedem Spiel etwas ändern. Wir sollten bei dem bleiben, was wir uns in acht Wochen Vorbereitung erarbeitet haben“, kritisierte der Außenverteidiger.

Weder Zorniger noch Sportvorstand Robin Dutt wollten die Gegentore am System festmachen. Tatsächlich schauten vor dem 0:1 Kostic und Emiliano Insua (außen) bloß zu, und innen ließ sich Adam Hlousek aufs Einfachste verladen. Zorniger musste sich aber zumindest eingestehen, dass seine Systemänderung auch nicht funktioniert. Die Mannschaft begann, wie von ihm verordnet, defensiver als sonst, fing trotzdem ihr Gegentor und fand in der Folge keine Balance zwischen Angriff und Verteidigung. Spätestens nach der Pause war von Zornigers Systemfußball nichts mehr zu erkennen.

Eine gänzliche Abkehr vom Prinzip des Ball- und Gegnerjagens ist aber ausgeschlossen. Es wäre mehr als nur eine taktische Änderung, es wäre das Verlassen des gemeinsamen Weges. Damit würden sich Zorniger und Dutt unglaubwürdig machen.

Der Trainer: „Für eine Trainerdiskussion sind wir zehn Monate zu früh dran“, sagte Robin Dutt mit süßsaurer Miene. Über Alexander Zorniger wird dennoch diskutiert – in den Fanforen. Die Anhänger fragen sich: Soll das ewig so weitergehen? Zornigers Popularitätswerte befinden sich im Sinkflug. Was gestern als selbstbewusst galt, wird ihm jetzt als Arroganz ausgelegt. Und auf einmal ist er nicht mehr der Schwabe aus Gmünd, sondern in Anlehnung an seine Leipziger Vergangenheit „der RB-Trainer“. Noch hat er die Mehrheit der Fans hinter sich, doch wer weiß, wie das nach einer weiteren Pleite am Sonntag (15.30 Uhr/Sky) gegen Schalke 04 aussieht. Mit seiner Aussage nach dem Spiel gegen Köln („Wenn wir so weiterspielen, werden wir nicht mehr viele Spiele verlieren“) hat er die Messlatte unnötig hoch gelegt. Eine Entlassung scheint kaum vorstellbar – dass Zorniger („Riesig ist der Frust“) irgendwann hinwirft, schon eher.

Der Sportvorstand: Robin Dutt muss sich langsam Fragen nach seiner Personalpolitik gefallen lassen. In Lukas Rupp, Jan Kliment und Philip Heise kamen nur Ergänzungsspieler, Torhüter Przemyslaw Tyton hat offensichtlich Probleme mit dem Spielsystem. Und dass es Adam Hlousek noch immer in die Startformation schafft, spricht nicht für die Qualität des Kaders. Beim 0:1 in Berlin stand er dem Marathontor näher als seinem Gegenspieler. Hlousek ist kein Innenverteidiger mit Bundesliga-Niveau. Am Samstag fehlte Timo Baumgartl. Doch auf den Jungen allein ist auch kein Verlass. Bleibt zu hoffen, dass Neuzugang Toni Sunjic seinen guten ersten Eindruck bestätigt.

Die nahe Zukunft: Wie Köln, Frankfurt und Hamburg war auch die Hertha keine Übermannschaft. Was zu der Frage führt, gegen wen der VfB überhaupt punkten will. Die nächsten Gegner lauten Schalke 04 (heim), Hannover 96 (auswärts) und Borussia Mönchengladbach (heim). Die dicken Brocken mit Bayern München, dem VfL Wolfsburg, Bayer Leverkusen und Borussia Dortmund folgen erst noch. Null Punkte nach vier Spieltagen – das gab es noch nie in der Bundesligageschichte des VfB. Irgendwie erinnert der Club an einen Schüler, der vor jeder Klassenarbeit büffelt wie ein Wilder und am Ende doch wieder eine Fünf kassiert. Es ist zum Verrücktwerden.