Die Alpen waren schon immer ein gefährliches Terrain. Lange bevor, der Klimawandel den Permafrost zunehmend zum Schmelzen gebracht hat. Nach und nach gibt das tauende Eis seine dunkelsten Geheimnisse preis – wie etwa Gletscherleichen.
Der Klimawandel lässt auch die Alpen tauen. Vielerorts in Europas Hochgebirge lockert sich mit dem Klimawandel Gestein, weil die gefrorenen Felsschichten antauen oder weil eindringendes Wasser Druck in Spalten erzeugt, die früher ganzjährig von Schnee und Eis bedeckt und durch den Permafrost zusammengehalten wurden. Die Menschen sind alarmiert.
Auch das Wandern und Bergsteigen in den Alpen wird nach Einschätzung von Experten durch den Klimawandel risikoreicher. „Die Gefahr im Gebirge wächst, das ist keine Frage“», sagt Rolf Sägesser, Fachleiter Ausbildung und Sicherheit Sommer beim Schweizer Alpen-Club SAC.
Permafrost gibt Gletscherleichen frei
Und noch etwas ist ein signifikantes Anzeichen der schmelzenden Eispanzer: die sogenannten Gletscherleichen. Bei diesen durch den Permafrost mumifizierten Überresten von Toten handelt es nicht um Verstorbene aus der Frühzeit der Besiedlung der Alpen durch den Menschen – wie im Fall der berühmten Gletschermumie Ötzi.
Es geht um Menschen aus heutiger Zeit: Wanderer und Bergsteiger, die im Hochgebirge unterwegs und dort zu Tode gekommen waren. Schnee und Eis hatten ihre Körper bedeckt und über Jahre, mitunter Jahrzehnte konserviert. Aufgrund der Gletscherschmelze werden immer häufiger Leichen von Personen freigelegt, die seit Jahrzehnten vermisst werden.
Funde aus den vergangenen Jahren
- September 2023: Zwei Wanderer entdecken die Überreste eines Mannes im Bereich des Hochgruberkees in Österreich auf etwa 2800 Metern Höhe. Die Polizei geht davon aus, dass es sich um einen seit 1971 vermissten Mann handelt, dessen Dokument bei der Leiche gefunden wurde. Die Behörden sind nun auf der Suche nach Verwandten, um die Identität mittels DNA-Vergleich eindeutig zu klären.
- August 2023: Skiwanderer stoßen im Gletschergebiet des Schlatenkees im österreichischen Tirol auf Leichenteile. Anfang September bringt eine DNA-Analyse Gewissheit, dass es die Überreste eines Mannes waren, der dort 2001 im Alter von 37 verschollen war.
- August 2023: Wanderer finden am Chessjen-Gletscher bei Saas-Fee in der Schweiz menschliche Knochen. Die Untersuchungen laufen noch.
- Juli 2023: Alpinisten treffen auf dem Stockji-Gletscher bei Zermatt auf die mumifizierten Überreste eines Bergsteigers. Ein DNA-Abgleich ergibt, dass es sich um die sterblichen Überreste eines seit 1986 vermissten 38-jährigen Touristen aus Mittelhessen handelt.
- August 2017: Es war vermutlich hochsommerlich warm, als Francine und Marcelin Dumoulin in die Berge aufbrachen. Das Ehepaar wollte am 15. August 1942 von Chandolin im Schweizer Kanton Wallis aus auf eine Alm wandern, um dort das Vieh zu füttern. Aber Marcelin Dumoulin, Schuhmacher, damals 40 Jahre alt, und seine Frau Francine, eine 37-jährige Lehrerin, kehrten nie in ihr Dorf zurück. Ein Pistenbully-Fahrer entdeckt auf dem Tsanfleurongletscher bei Les Diablerets in 2600 Metern Höhe ihre sterblichen Überreste. Die Walliser Polizei identifiziert die Gletscherleichen als Marcelin und Francine Dumoulin. Wahrscheinlich waren die beiden 1942 in eine Gletscherspalte gestürzt.
- Juli 2017: Ein Bergführer entdeckt den aus dem Eis ragenden Leichnam am Alpeiner Ferner auf rund 3000 Metern Höhe in Neustift im österreichischen Stubaital. Bei der Bergung der Leiche werden ein Eispickel, ein Messer und eine Geldbörse gefunden. Nach Angaben der Ermittler war 1974 ein deutscher Bergsteiger in dem Gebiet verschollen. Der damals 36-Jährige ist von einer Bergtour nie mehr ins Tal zurückgekehrt.
- Juli 2017: Zwei Bergsteiger entdecken Ende Juli auf dem Stockjigletscher in Zermatt menschliche Knochen und die Überreste einer Bergsteigerausrüstung. Wie DNA-Analysen ergeben, handelt es sich um einen deutschen Alpinisten, der seit August 1990 vermisst wurde. Der damals 27-Jährige war von Chamonix über die Walliser Alpen nach Domodossola unterwegs, doch er ist nie am Zielort angekommen.
- Juni 2012: Im Juni 2012 gab der Aletschgletscher die Knochen von drei Brüdern frei, die 1926 verschwunden waren.
Kanton Wallis führt eine Liste mit 300 Vermissten
Im schweizerischen Wallis laufen die Ermittlungen in solchen Fällen bei der Kantonspolizei zusammen. „Letztlich sind es nicht einfach nur Knochen, es sind Überreste von Menschen. Wir wollen ihnen einen Namen zuweisen können, damit man die Familie über den Fund des Vermissten informieren kann. Manchmal ist das Jahrzehnte nach dessen Verschwinden“, erklärt Polizeisprecher Stève Léger.
Die Behörden in dem eidgenössischen Kanton führen seit 1925 eine Liste mit vermissten Personen. Darauf stehen aktuell die Namen von rund 300 Menschen. Bis zu zwei Drittel dieser Vermissten würden in den Bergen und Gletschern liegen, sagt Léger. Bei einem Knochenfund kann mit Hilfe der Daten ein erster Standortabgleich durchgeführt und die Liste eingegrenzt werden.
Forensiker identifizieren die Überreste
Mit den Knochenfunden befasst sich auch die Rechtsmedizin. Um die Überreste zu bestimmen, werden drei forensische Methoden angewendet:
- der DNA-Vergleich
- die zahnärztliche Identifizierung
- die radiologische Identifizierung
Bei letzterer Methode werden laut der Rechtsmedizinerin Pia Genet die radiologischen Personendaten vor dem Tod der Person mit den Daten der toten Person verglichen. Je älter die menschlichen Überreste sind, desto schwieriger gestaltet sich die Identifikation. Bei Vermisstenfällen der jüngeren Vergangenheit erleichtert vor allem die Erbgutanalyse – also eine DNA-Probe von engen Angehörigen – die Nachforschungen.
Auch Fundstücke wie persönliche Gegenstände, die der oder die Tote bei sich tragen helfen bei der Lösung des Identitätsrätsels. Der Fundort wird dafür von den Ermittlern akribisch abgesucht.