Walle Sayer gibt Kostproben aus seinem lyrischen Werk. Foto: Steinmetz Foto: Schwarzwälder Bote

Literaturmenü: Der Lyriker Walle Sayer serviert Gedichte zum Essen

Sulz-Glatt. Das war ein doppelter Genuss und ein Experiment, das auf Anhieb funktionierte. Volker Bertram freute sich über die vielen Besucher im "Züfle", die am Freitagabend die Gedichte von Walle Sayer und das Viergänge-Menü gleichermaßen genossen.

Walle Sayer ist Dichter und Kellner. Seit mehr als 25 Jahren bedient er die Gäste im "Züfle". "Er ist eine gute Hilfe", bestätigt Inhaber Volker Bertram. An dem Abend gibt Sayer aber ausschließlich Kostproben aus seinem mittlerweile umfangreichen Werk, das auf dem Stammtisch ausgebreitet ist.

Die Vorspeise, eine Schmand-Lachs-Terrine, ist gegessen. Sayer serviert als Zugabe Gedichte zu seiner eigenen Herkunft und Jugend. Er ist in einem Haus in Bierlingen aufgewachsen, in dem es außer der Bibel keine Bücher gab. Wie wird man da zum Lyriker? "Übers Lesen", erzählt er. Die Bücher hat er sich nämlich aus der Pfarrbibliothek ausgeliehen und dann die Abenteuer-, Helden und Heiligengeschichten verschlungen. In der Fantasie mündet dabei die kleine Eyach in den großen Mississippi, auf dem Tom Sawyer und Huckleberry Finn hinunterschippern. Man sieht den Lesenden, auf den Ellenbogen abgestützt, in der Eckbank sitzen und vor sich den Käfig mit dem Wellensittich. Der Dichter kramt in seinen Erinnerungen, nimmt die Zuhörer mit in die Schule. Die Hefte haben dort Eselsohren, die Tafel erscheint zu schwarz, um Schatten werfen zu können. Es sind Erinnerungsfetzen, die sich zu Bildern verdichten.

"Schreiben ist Sammeltätigkeit", erzählt Walle Sayer. Alles sei brauchbar. Er notiert Schwatzbase, Heulsuse und Schnapsdrossel in seinem Notizbuch, um sie dann in ein Gespräch zu verwickeln. Er verbindet Begriffe, die nichts miteinander zu tun haben. So darf man sich nicht wundern, wenn im Schlafzimmer Bodennebel auftaucht oder hochdeutsche Brocken durch die Spätzlespresse gedrückt werden. "Beim Schreiben braucht man einen fotografischen Blick", sagt er. Der Fotograf müsse auf den Augenblick warten. Der Dichter kann aber noch Jahre danach über Gesehenes schreiben. Das ist der Unterschied.

Nach der Spargel-Kartoffelcremesuppe geht es um das Thema Essen und Trinken. Auch darüber hat sich der Dichter Gedanken gemacht. Er sinniert über das Geheimnis des Kartoffelsalats. Warum schmeckt der seiner Mutter am besten? Übers "Züfle" hat er geschrieben, über die "Bayerische Woche", die zu Zeiten des kürzlich verstorbenen Wirts Friedemann Seevers zwei Wochen dauerte. "Als Bedienung war es fürchterlich", berichtet er. Die Musik dagegen klasse: Der Akkordeonist mit Schottenkappe, immer in Begleitung von miniberockten jungen Damen, war der Hausmusiker des Dreifarbenhauses in Stuttgart. Von ihm lässt er sich ein Autogramm auf dem Bierdeckel geben.

Ein Gedicht ist auf der Fahrt zum "Züfle" entstanden: Eine Schafherde überquert die Straße im Glatttal, teilt Raum und Zeit – für den Lyriker ein "biblisches Bild", für den im Stau stehenden Außendienstler auf dem Weg zu seinen Terminen ein Ärgernis.

Den Rauschzustand und Kater nach durchzechter Nacht hat Sayer ebenfalls "poetisch ausgebeutet". Sein Geheimtipp: Der Vorraum der Zweigstelle einer Bank zwischen Geldautomat und Drucker kann für den müden Zecher ein guter Schlafplatz sein.

Die Gäste lassen sich nun den Hauptgang mit rosa gebratener Entenbrust schmecken. Und zu Süßem gibt es weitere Köstlichkeiten des Lyrikers. Ein humorvoller Abend, der eine Wiederholung wert ist.