Saskia Esken spricht beim Besuch unserer Zeitung darüber, wie sehr sich ihr Leben verändert hat, seit sie gemeinsam mit Norbert Walter-Borjans den SPD-Parteivorsitz übernommen hat. Foto: Buck

58-Jährige spricht über vollen Terminkalender und Veränderungen im Alltag. "Die AfD gibt keine Antworten."

Calw - So ganz fit ist Saskia Esken noch nicht, als sie zum Gespräch mit der Redaktion ihrer Heimatzeitung in Calw kommt. Eine Erkältung hat die SPD-Bundesvorsitzende erwischt, Zeit zum Auskurieren bleibt ihr kaum.

Hielt sich Esken am Samstag noch in Böblingen beim Jahresauftakt der dortigen SPD auf, fuhr sie am Sonntag nach Berlin, um in der Talk-Sendung von Anne Will aufzutreten. Am Montag ging es dann zurück in ihren Walkreis Calw-Freudenstadt, einen Tag später heißt die Destination wieder Berlin.

"Er ist jetzt anders getaktet", meint Esken im Hinblick auf ihren noch recht jungen Alltag als Bundesvorsitzende der SPD. Während sie als Bundestagsabgeordnete 22 Sitzungswochen in Berlin sowie 30 Wochen in ihrem Wahlkreis zu verbringen hatte, kommen für die 58-Jährige nun viel mehr Tätigkeiten außerhalb dazu. Die Struktur verschwimmt.

Aus persönlicher Überzeugung keine Inlandsflüge

"Früher waren die Welten klarer getrennt", meint Esken. Nicht nur in Bezug auf ihre Abläufe. Im Wahlkreis habe einst kaum jemand gewusst, was sie in Berlin fachlich gemacht habe. Andererseits sei sie in der Hauptstadt kaum von Fremden angesprochen worden. Nun, da sie sich seit Dezember 2019 den Bundesvorsitz der SPD mit Norbert Walter-Borjans teilt, wird Esken plötzlich überall erkannt. Beispielsweise in der Bahn, mit der sie all ihre Dienstreisen unternimmt.

Aus persönlicher Überzeugung verzichtet Esken auf Inlandsflüge, wie sie erklärt. Das mache das Ganze zwar an der ein oder anderen Stelle durchaus komplizierter, räumt sie ein. "Aber man kann die Zeit auch effektiver nutzen." Wenn – und das sei meistens der Fall – die Menschen in der Bahn, die sie erkennen, Verständnis dafür haben, dass die Politikerin auch während der Fahrt arbeiten muss.

Nicht immer liest sie die Kommentare

Dennoch freut sich Esken laut eigener Aussage über den Zuspruch, den sie im persönlichen Kontakt mit den Menschen erfährt. Zumal es gerade in dem sozialen Netzwerk Facebook oft sehr viel rauer zugeht. "Facebook ist nicht der Ort, wo politisch diskutiert wird", ist Esken überzeugt. Während es bei Twitter ihres Erachtens auch viele Communities gebe, die ernsthaft an einem Dialog interessiert seien, gebe es bei Facebook viele Nutzer, "die zur politischen Debatte nichts Sinnvolles beitragen wollen".

Nicht immer liest Esken daher die Kommentare, die sich beispielsweise unter Medienberichten in dem Netzwerk tummeln. "Das macht mal gute und mal weniger gute Laune", sagt sie. Geschweige denn habe sie genügend Zeit dafür.

Leben komplett umgekrempelt

Plötzlich im Rampenlicht zu stehen, war für Esken eine riesige Veränderung, "eine komplette Umkehr des Lebens", wie sie selbst sagt. Sich während des Wahlkampfes um die SPD-Spitze mental darauf vorzubereiten? "Dafür war keine Zeit." Esken vergleicht diesen Prozess im Gespräch mit unserer Zeitung mit der Geburt eines Babys: Egal wie sehr man versuche, sich darauf vorzubereiten, das Leben sei danach komplett umgekrempelt. "Ich habe aber schon sehr viele Umbrüche erlebt", meint Esken. Deshalb habe sie keine Angst davor, sondern verspüre regelrecht Lust auf Veränderungen.

Überhaupt sieht sich die Politikerin aus dem Nordschwarzwald nicht als "ängstlichen Typ". Was auch in Bezug auf die Kritik gilt, die ihr in ihrem Amt unweigerlich entgegenschlägt. Natürlich, räumt sie ein, beschäftige es einen, "wenn jedes Wort auf die Goldwaage gelegt wird". Aber man werde vorsichtiger mit der Zeit. Was Esken wiederum bedauert, denn: "Jeder wünscht sich Politiker mit Ecken und Kanten, aber wenn jemand Ecken und Kanten hat, dann ist es auch nicht recht."

Erwachsene Kinder stolz auf Mutter

Familie in Calw, Beruf in Berlin – wie funktioniert das? "Man muss die Zeit, die man mit der Familie hat, intensiv nutzen", sagt Esken. Dazu gehört ihrer Meinung nach vor allem die klare Trennung von Beruf und Privatleben. Doch ganz so leicht gestaltet sich das nicht immer, wie die dreifache Mutter anhand einer Anekdote veranschaulicht: So sei sie unlängst mit ihrem Mann und den erwachsenen Kindern in einem Restaurant gewesen, habe aber kaum Zeit für ihre Familie gehabt. Der Grund: Ein politisch interessierter Fremder habe sich zu ihnen an den Tisch gesetzt. So etwas sei dann natürlich auch für die Kinder "nervig". Andererseits seien sie auch stolz auf die Position ihrer Mutter.

Darüber hinaus, fügt Esken hinzu, gebe es auch viele andere Berufe als den des Politikers, bei dem man viel unterwegs und selten greifbar sei. Mithilfe der technischen Möglichkeiten heutzutage sei es jedoch leichter, Kontakt zu halten. "Und mein Mann kann mich dann abends im Fernseher sehen", lacht sie.

Das war "Politik auf den ersten Blick"

Auch mit den Genossen des SPD-Kreisverbands Calw steht Esken nach wie vor in Kontakt. Über die Jahre – 30 an der Zahl, in der sie sich für die Partei engagiert – seien nicht nur Arbeitsbeziehungen entstanden, sondern auch echte Freundschaften. Derzeit führen vier Stellvertreter die Geschäfte des Kreisverbands, dem Esken nach wie vor offiziell vorsitzt. Als sie und Walter-Borjans im Dezember die Stichwahl um die Parteispitze für sich entschieden hatten, waren auch einige Calwer Genossen in Berlin mit von der Partie, um zu feiern.

Walter-Borjans und Esken – das war "Politik auf den ersten Blick". So beschreibt es die 58-Jährige selbst. Sie und der ehemalige Finanzminister von Nordrhein-Westfalen hatten sich nicht gekannt, als sie ihm vergangenes Jahr eine SMS schrieb und vorschlug, zusammen um den Parteivorsitz zu kandidieren. "Wir haben uns schnell gut verstanden, haben ähnliche Haltungen zu vielem und sind uns vom Typ her nicht unähnlich", führt Esken aus. Man versteht sich als Team – und doch hat jeder seine eigenen Fachgebiete. "Wir sind nicht dauernd zusammen unterwegs", meint sie. So sei es für die Doppelspitze möglich, mehr Termine zu absolvieren, was aber gleichzeitig mehr Absprachen – also täglichen Kontakt – erfordert. Bisher, bekräftigt Esken, klappe das gut.

Hat Groko Antworten auf große Fragen?

Ihr vorerst größter Erfolg sei, sagt die Parteivorsitzende, dass Gespräche mit der CDU geführt würden – was oft nicht so wahrgenommen werde. In der Bewerbungsphase um den SPD-Parteivorsitz hatte Esken immer wieder ihre kritische Haltung gegenüber der großen Koalition bekräftigt. Nun wolle man herausfinden, ob die Groko noch Antworten auf die großen Fragen der heutigen Zeit habe. Dazu gehört laut Esken auch, "guten Mutes unsere Themen vorzutragen". Investitionen in die Infrastruktur der Kommunen, Digitalisierung, Mindestlohn und Tarifbindung sowie Klimaschutz. Erste Erfolge habe man hierbei schon erzielt. Beispielsweise die Einrichtung einer Arbeitsgruppe für die Investitionen in die Kommunen oder die Einbringung eines Gesetztes für die Nutzung von Kurzarbeit für Weiterbildungsmaßnahmen.

Die Volksparteien, davon ist Esken überzeugt, haben nach wie vor eine große Verantwortung. Was man gerade im Hinblick auf die Debatte um die Thüringer Ministerpräsidentenwahl erkennen könne. "Die AfD gibt keine Antworten", betont sie. "Gegen Flüchtlinge zu hetzen, bringt keinen Landarzt nach Neuweiler, sondern noch mehr Spaltung."

Es ist nur ein kurzer Abstecher in die Heimat für Saskia Esken. Kaum ist das Gespräch mit unserer Zeitung beendet, geht es schon wieder zurück in die Hauptstadt. Zuvor muss sie aber noch ein Kostüm für den Kölner Karneval heraussuchen, den sie gemeinsam mit Walter-Borjans besuchen wird. Ein voller Terminplan, bei dem es nur schwerlich möglich ist, durchzuatmen. Zwar mühe sich die Politikerin nach Kräften, auch mal zu entspannen. Bei durchschnittlich fünf Stunden Schlaf pro Nacht falle das mitunter schwer.

"Aber die Arbeit macht Spaß", betont Esken. Der SPD-Vorsitz sei eine ehren- und machtvolle Position. Und: "Man kann wichtige Dinge bewegen."